Landgericht Fulda, Urteil vom 20. Januar 2017, Az. 1 S 91/16
Die Aussage ist nicht nur umgangssprachliches Allgemeingut. Sie spiegelt auch, zumindest was den Anscheinsbeweis angeht, die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wider. Danach spricht der erste Anschein tatsächlich gegen den Auffahrenden. Denn dieser hat entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten (§ 4 Abs. 1 StVO), war unaufmerksam (§ 1 StVO) oder ist mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren (vgl. BGH v. 12.12.2006, Az. VI ZR 75/06; BGH v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16; v. 13.12.2011, Az. VI ZR 177/10; v. 30.11.2010, Az. VI ZR 15/10; v. 16.01.2007, Az. VI ZR 248/05; v. 18.10.1988, Az. VI ZR 223/87; v. 06.04.1982, Az. VI ZR 152/80). Eine naturgesetzliche Gewissheit, dass der Auffahrende immer schuld ist, gibt es allerdings nicht.
Die Parteien fuhren hintereinander auf der Autobahn. Der Beklagte fuhr hinter dem Kläger. Nach einem unstreitigen Fahrstreifenwechsel des Klägers fuhr der Beklagte auf das Fahrzeug des Klägers auf. Dabei wurde das Fahrzeug des Klägers hinten links und das des Beklagten vorne rechts beschädigt. Der Kläger verlangte von dem Beklagten Ersatz des an seinem Fahrzeug entstandenen Schadens. Der Beklagte sah hierfür keine Veranlassung, insbesondere im Hinblick auf den Fahrstreifenwechsel des Klägers. Da sich die Parteien nicht einigen konnten, musste zunächst das Amtsgericht Bad Hersfeld und anschließend das Landgericht Fulda entscheiden.
Das Amtsgericht Bad Hersfeld verurteilte den Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz in voller Höhe (Urteil vom 01.08.2016, Az. 10 C 363/16 (70). Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es sich bei dem Fahrzeug des Klägers eindeutig um einen Heckschaden und bei dem Fahrzeug des Beklagten eindeutig um einen Frontschaden handele, weshalb hier ein Auffahren auf das Fahrzeug des Beklagten vorliege und bei einem solchen Auffahrunfall der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden spreche. Es sei davon auszugehen, dass der Beklagte entweder unaufmerksam gewesen sei oder den gebotenen Sicherheitsabstand nicht eingehalten habe und ihn daher das alleinige Verschulden an dem Unfall treffe. Die teilweise Überdeckung der Fahrzeuge im Front- und Heckbereich lasse für sich genommen nicht auf einen atypischen Geschehensablauf schließen (vgl. OLG München v. 25.10.2013, Az. 10 U 964/13). Die Behauptung des Beklagten, der Kläger habe unmittelbar vor der Kollision den Fahrstreifen gewechselt, hätte der Beklagte beweisen müssen. Dies habe er nicht getan. Zudem gehe auch die Polizeiakte von einem typischen Auffahrunfall aus.
Das Landgericht Fulda sah die Sache differenzierter. Zunächst stellte es fest, dass der Anscheinsbeweis nur dann greift, wenn der gesamte festgestellte Unfallhergang nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass der Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis greift, schuldhaft gehandelt hat. Lässt sich dies nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, ist für den Anscheinsbeweis kein Raum.
Dies hatte auch der Bundesgerichtshof zeitlich vorgelagert und in anderer Sache so gesehen (Urt. v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16). In Anknüpfung an das BGH-Urteil vom 13.12.2011 (Az. VI ZR 177/10) führte er aus, dass ein Auffahrunfall allein für den Anscheinsbeweis nicht ausreiche, wenn weitere Umstände des Unfallgeschehens bekannt seien, die – wie etwa ein vor dem Auffahren durchgeführter Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 07.11.2016, Az. I-6U 79/16; Urt. v. 03.03.2012, Az. 6 U 174/10; LG Bonn, Urt. v. 27.01.2027, Az.1 O 181/16 ) – auf einen Auffahrunfall hindeuteten. Daraus folgt, dass bei Vorliegen solcher Umstände diese aufzuklären und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen sind. Lässt sich der Sachverhalt jedoch weder im Rahmen der Anhörung noch beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten aufklären, rechtfertigt dies – so das Landgericht Fulda – dem Grunde nach eine hälftige Schadensteilung.
Ergänzend sei auf ein Urteil des OLG München vom 09.02.2022, Az. 10 U 1962/21 hingewiesen.
Den Leitsätzen zufolge, kann bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen , dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist. Und mangels Typizität scheidet ein Anscheinsbeweis aus, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, aber sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist.
In § 1 Abs. 2 StVO heißt es: Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat dies in seinem Urteil vom 06.04.1982 (Az. VI ZR 152/80) so formuliert, dass die Fahrweise so einzurichten ist, dass man notfalls noch anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht. Aber auch dann ist nicht alles eindeutig und bedarf manchmal zweier Instanzen.
Wer in einen Auffahrunfall verwickelt ist, sollte auf jeden Fall die Ruhe bewahren. Nicht immer ist alles so, wie es auf den ersten Blick scheint. Um dies einem Unfallgegner oder vor Gericht klar zu machen, bedarf es in der Regel anwaltlicher Unterstützung!
Sollten Sie in einen Unfall verwickelt gewesen sein und der Versicherer des Unfallgegners Ihre berechtigten Schadenersatzansprüche ablehnen, sprechen Sie mit uns!
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Aktualisiert am 26.08.2024