OLG Stuttgart, Urteil vom 11.04.2024, Az. 2 U 176/22
Der Fahrer eines Lang-LKW wollte auf einer zweispurigen Abbiegespur nach rechts abbiegen. Einer betriebsinternen Weisung folgend, hatte er sich dazu mittig zwischen den Fahrspuren aufgestellt, um so das seitliche Vorbeifahren von Fahrzeugen und UnfÀlle beim Abbiegen zu verhindern. Der Fahrer eines PKW drÀngte sich jedoch vorbei und es kam, wie es kommen musste. Als der LKW abbog scherte die vordere Ecke des Aufliegers aus und beschÀdigte das Heck des DrÀnglers.
Der Kaskoversicherer des PKW beglich den Schaden zunĂ€chst, machte seine Aufwendungen anschlieĂend aber als Regressforderung beim Haftpflichtversicherer des Lastzugs geltend. Dieser wies die Forderung jedoch zurĂŒck und es kam zum Rechtsstreit.
Nachdem der Kaskoversicherer vor dem Landgericht nahezu vollstÀndig gescheitert war, legte er Berufung zum OLG Stuttgart ein.
Das Landgericht hatte das Verschulden ĂŒberwiegend beim Fahrer des PKW gesehen. Ohne konkrete Vorstellungen davon, wie sich ein Lkw mit AnhĂ€nger wĂ€hrend des Abbiegens verhalte, hĂ€tte er nicht so nah (75 cm Seitenabstand) an das Zugfahrzeug heranfahren dĂŒrfen.
Das OLG sah das anders und meinte, das Landgericht habe die Anforderungen an den PKW-Fahrer deutlich ĂŒberspannt.
Selbst der gerichtlich beauftragte SachverstĂ€ndige habe erst durch Fahrversuche herausfinden mĂŒssen, dass die linke vordere Ecke des AnhĂ€ngers beim Gespann eines Lang-LKWs um einen Meter nach links ausschwenkt. Vor diesem Hintergrund hĂ€tte das Landgericht daher nicht davon ausgehen dĂŒrfen, dass ein derartiges Wissen bei dem drĂ€ngelnden Kraftfahrer vorhanden gewesen sei.
In Bezug auf den Fahrer des Lastzuges sei das anders zu beurteilen. Dieser habe schon aufgrund der Fahrbahnbreite und seiner vorangegangenen Erfahrungen an der Unfallörtlichkeit damit rechnen mĂŒssen, dass sich ein Fahrzeug an ihm âvorbeidrĂŒckenâ wĂŒrde. Hinzu kam, dass er – aufgrund der fĂŒr ihn beschrĂ€nkten SichtverhĂ€ltnisse – nicht erkennen konnte, ob das Ausscheren des AnhĂ€ngers wĂ€hrend des Abbiegens nachfolgenden Verkehr gefĂ€hrden könne.
Die Verkehrssituation sei somit fĂŒr ihn nicht beherrschbar gewesen. Vor dem Abbiegen hĂ€tte er daher stĂ€rker auf etwaigen nachfolgenden Verkehr achten mĂŒssen, um dessen GefĂ€hrdung auszuschlieĂen (§ 9 Absatz 1 Satz 4 StVO). Dies habe auch fĂŒr rechtsabbiegenden Verkehr gegolten und es sei – insbesondere bei einem ausschwenkenden Fahrzeug – ein Ă€uĂerst sorgfĂ€ltiges Verhalten gefordert gewesen. Im Zweifel hĂ€tte der Fahrer sich sogar durch eine weitere Person einweisen lassen mĂŒssen. Dies sei aber unterblieben, obgleich mit âvorbeidrĂŒckendenâ Fahrzeugen gerechnet werden musste.
Am Ende kam das Oberlandesgericht kam zu einer Verteilung der Haftung von 75 % zu 25 % zu Gunsten des KlĂ€gers und sprach weiteren Schadenersatz zu. Die allgemeine Betriebsgefahr des Pkw sowie den eingerĂ€umten VerstoĂ gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten (§ 1 Absatz 2 StVO), weil der Fahrer trotz erkennbar enger VerhĂ€ltnisse sich an dem Beklagtenfahrzeug âvorbeigedrĂŒcktâ hatte, hatte es dabei mit berĂŒcksichtigt.
Das Urteil belegt: Eindeutige und klar vorhersehbare FĂ€lle gibt es im Verkehrsrecht kaum. Insbesondere ist nicht auszuschlieĂen, dass sich die Rechtsprechung und damit die Anspruchssituation Ă€ndert, wenn ein Rechtsstreit ĂŒber mehrere Instanzen geht.
Wer dennoch meint, er könne – selbst bei einer vermeintlich einfachen Verkehrsunfallsache – auf die Einschaltung eines Anwalts verzichten, handelt mindestens fahrlĂ€ssig (OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 01.12.2014, Az. 22 U 171/13). Lassen Sie sich dies nicht vorhalten!
Sollten Sie in einen Verkehrsunfall verwickelt worden sein, kontaktieren Sie uns!
Wir können den Unfall zwar nicht ungeschehen machen, aber wir können den Schaden regeln!
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