Es spricht vieles dafür, dass ein Auffahrender entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat
(§ 4 Abs. 1 StVO
), unaufmerksam war
(§ 1 StVO
) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist
(§ 3 Abs. 1 StVO). Denn grundsätzlich sind Kraftfahrer verpflichtet, ihre Fahrweise so einzurichten, dass sie notfalls rechtzeitig anhalten können, wenn ein Hindernis auftaucht (vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16; v. 13.12.2011, Az. VI ZR 177/10; v. 30.11.2010, Az. VI ZR 15/10; v. 16.01.2007, Az. VI ZR 248/05; v. 18.10.1988; Az. VI ZR 223/87).
So wird dem OLG Schleswig zufolge der Anscheinsbeweis zu Lasten des von hinten Auffahrenden auch dann nicht widerlegt, wenn der Voranfahrende bei Grünlicht abgebremst hat (Az. 7 U 82/23 v. 19.03.2024) Das ist auch in Ordnung, denn dem BGH zufolge müssen Autofahrer so fahren, dass sie notfalls rechtzeitig anhalten können, wenn ein Hindernis auftaucht. (Urt. v. 06.04.1982, Az. VI ZR 152/80).
Aber auch diese Regel hat Ausnahmen. Es kommt darauf an, wer den Schaden überwiegend verursacht hat. Bei der Abwägung werden nur unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt. Es ist kein Raum für Verschuldensvermutungen. Der vermeintlich Geschädigte muss Umstände beweisen, die dem Unfallgegner zum Verschulden gereichen und aus denen er die für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten kann (vgl. BGH (Urt. v. 13.02.1996, Az. VI ZR 126/95).
So hat der BGH z.B. mit Urteil vom 13.12.2016 (Az. VI ZR 32/16) festgestellt, dass ein Auffahrunfall als solcher selbst dann nicht für die Annahme eines Anscheinsbeweises ausreicht, wenn besondere Umstände vorliegen, die ein atypisches Unfallgeschehen nahe legen.
Wenn also alles klar ist, zugestanden oder bewiesen, dass es sich um einen typischen Unfall handelt, muss die Person, die den Anscheinsbeweis nutzen will, beweisen, dass es nicht so war. Er muss beweisen, dass es weitere Umstände gibt, die den feststehenden Sachverhalt widerlegen (vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16). Dies kann allerdings nur dann gelingen, wenn Umstände feststehen bzw. nachgewiesen sind, aus denen sich zumindest die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt (OLG Celle, Urt. v. 11.12.2024, Az. 14 U 91/23).
Bekanntermaßen ist nicht jede Kollision mit dem Heck des vorausfahrenden Fahrzeugs auch zwingend ein Auffahrunfall im engeren Sinne. Und ungeachtet etwaiger Beweispflichten, ist im Straßenverkehrsrecht z.B. für das Rückwärtsfahren i.S.d. § 9 Abs. 5 StVO ein Erfahrungssatz für eine Sorgfaltspflichtverletzung anerkannt, “wenn feststeht, dass sich das Fahrzeug des Schädigers in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der Kollision in Rückwärtsbewegung befunden hat” (LG Lübeck, Urt. v. 26.02.2024, Az. 10 O 251/23). Schließlich muss sich der Fahrer beim Rückwärtsfahren so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist (OLG Schleswig Urt. v. 8.10.2024, Az. 7 U 30/24).
Kommt es – z.B. auf einer Autobahn- zu einem Auffahrunfall, muss der Auffahrende den zeitlichen und räumlichen Zusammenhang eines von ihm behaupteten Fahrstreifenwechsel des Vordermanns beweisen, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Denn ohne den zeitlichen und örtlichen Zusammenhang des Spurwechsels mit dem Auffahrunfall kann dem feststehenden Sachverhalt die Typizität nicht genommen werden. Ein Spurwechsel zu irgendeinem früheren Zeitpunkt reicht hierfür nicht aus (OLG Celle, Urt. v. 11.12.2024, Az. 14 U 91/23). Ereignet sich die Kollision, nachdem der Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs bereits eit ca. 8 Sekunden abgeschlossen ist, scheidet ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang des Spurwechsels mit dem Auffahrunfall aus (LG Braunschweig, Urt. v. 08.10.2024, Az. 4 O 1139/22).
So kommt der Anscheinsbeweis z.B. dann nicht zum Zug, wenn das Auffahren im räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit dem Einbiegen aus einer untergeordneten Straße geschieht.
Wenn ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug auf ein anderes Fahrzeug auffährt, das von einer untergeordneten Straße eingebogen kommt und noch nicht die übliche Geschwindigkeit auf der Vorfahrtsstraße erreicht hat, dann ist es wahrscheinlich, dass der Unfall dadurch verursacht wurde, dass das andere Fahrzeug nicht die Vorfahrt einhalten hat.
In einer solchen Konstellation kann der Anscheinsbeweis eher gegen den Vorfahrtsverletzer als gegen den Auffahrenden sprechen (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 28.05.2009, Az. 12 U 43/09; OLG Brandenburg v. 02.04.2009, Az. 12 U 214/08). Dies gilt auch dann, wenn der Zusammenstoß außerhalb des eigentlichen Kreuzungsbereiches stattfindet, weil die Wartepflicht des § 8 Abs. 2 StVO nicht nur für die Kreuzungsfläche gilt, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der vorfahrtsberechtigten Straße bzw. bis die auf der Vorfahrtsstraße allgemein eingehaltene Geschwindigkeit erreicht wird oder der Wartepflichtige sich bereits in stabiler Geradeausfahrt befindet (OLG Brandenburg, Urt. v. 08.03.2007, Az. 12 U 173/06).
Kommt es beim Überholen zu einem Unfall, spricht ein zu geringer Seitenabstand für ein Verschulden des Überholenden (LG Köln Urt. v. 19.04.2024, Az. 14 O 65/21).
Dasselbe gilt, wenn ein Überholvorgang noch im Bereich eines Überholverbotes eingeleitet worden und somit gegen das Verkehrszeichen 280 verstoßen worden ist. Ob das Überholverbot später aufgehoben worden ist, spielt dabei selbst dann keine Rolle, wenn der Überholte später links abbiegt (OLG Celle, Urt. v. 13.03.2024, Az. 14 U 122/23).
Bei der Kollision des Abbiegenden streitet der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Abbiegenden, wenn es zu einem Unfall kommt. Klassiker sind dabei die Nichtbeachtung des Gebot der doppelten Rückschaupflicht sowie die Verletzung der erhöhten Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO (vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.04.2019, Az. 1 U 108/18).
In einem Urteil vom 23. Januar 2015, Az. 10 U 299/14 hatte das OLG München festgestellt, dass selbst eine Alkoholisierung im Bereich der absoluten Fahruntüchtigkeit keinen Rückschluss auf die Unfallursache erlaubt. Dem Gericht zufolge darf sie bei der Abwägung nach § 17 StVG vielmehr nur berücksichtigt werden, wenn sie sich nachweislich in dem Unfall niedergeschlagen hat. “Aus diesem Grund ist ein unfallursächlicher Verstoß des alkoholisierten Kraftfahrers vorauszusetzen, bevor – aufgrund der Alkoholisierung, gegebenenfalls in Form eines Anscheinsbeweises – darauf geschlossen werden kann, der Unfall habe sich in einer Verkehrslage ereignet, die ein nüchterner Kraftfahrer
problemlos hätte meistern können.”
Der einschlägigen Rechtsprechung zufolge (z.B. OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023, Az. 14 U 32/23; OLG Hamm, Urt. v. 09.05.2023, Az. 7 U 17/23; OLG München, Urt. v. 07.10.2016, Az. 10 U 767/16) gelten die Grundsätze zum Anscheinsbeweis auch bei berührungslosen Unfällen (siehe: Was gilt bei berührungslosen Verkehrsunfällen?)
Die Ausführungen zeigen: Die Schuldfrage ist nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick erscheint oder der Unfallgegner sie gerne hätte!
Sollten sie in einen Unfall verwickelt worden sein, geben Sie daher vor Ort insbesondere dann kein leichtfertiges Schuldanerkenntnis ab, wenn der Gegner sie dazu drängen will!
Kontaktieren sie besser uns!
Sie wissen ja: Voigt regelt!