In einem Sachverhalt, den OLG Hamm zu entscheiden hatte (Beschl. v. 28.02.2018, Az. 11 U 108/17), war ein Linienbus wegen eines Karnevalsumzugs in einen Stau geraten. Nachdem mehrere Fahrgäste auf das Aussteigen gedrängt hatten, öffnete der Busfahrer etwa 200 Meter vor dem Ortseingang die Türen und ließ die Fahrgäste auf dem befestigten Seiten-/Mehrzweckstreifen aussteigen. Die Warnblinkanlage war zu diesem Zeitpunkt nicht eingeschaltet.
Als ein 14-jähriges Mädchen aus dem Bus ausstieg, wurde sie von einer Autofahrerin angefahren. Diese hatte zuvor hinter dem Bus gestanden hatte und wollte auf dem Seitenstreifen anhalten, um zu telefonieren.
Die hier zitierte Entscheidung liegt zwar schon etwas zurück; die Problematik als solche ist aber nach wie vor aktuell, wie neuere Entscheidungen zeigen.
Die Geschädigte hatte die Autofahrerin und deren Kfz-Versicherer vor dem Landgericht Arnsberg (Az. I-4 O 262/12) auf Schadenersatz und Schmerzensgeld verklagt. Dieses sprach die Forderung vom Grundsatz her zu reduzierte den Anspruch aber wegen Mitverschuldens auf 50 %.
Der Kfz-Versicherer wollte dies nicht akzeptieren und ging in Berufung. Der Busfahrer habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, da er die Fahrgäste außerhalb des vorgesehenen Haltebereichs aussteigen ließ, ohne sich zu vergewissern, dass dies gefahrlos möglich war, und die Türen öffnete, obwohl die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet war. Der Kfz-Versicherer vertrat daher die Auffassung, dass der Haftpflichtversicherer des Busses 50 % des vom Kfz-Versicherer zu ersetzenden Schadens zu tragen habe.
Das Landgericht (LG) Arnsberg gab dem Kfz-Versicherer der Autofahrerin Recht und verurteilte den Versicherer des Busunternehmens zur Zahlung der Hälfte des Schadens (Urt. v. 24.07.2017, Az. 2 O 280/16). Das Gericht folgte der Auffassung des Kfz-Versicherers, dass das Verhalten des Busfahrers ein Mitverschulden begründe, weil er die Fahrgäste außerhalb des dafür vorgesehenen Bereichs und mit nicht eingeschalteter Warnblinkanlage habe aussteigen lassen. Außerdem sei der Pkw der Autofahrerin, der sich unmittelbar hinter dem Bus befunden habe, für den Busfahrer nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, so dass er die Gefahrensituation nicht habe erkennen können.
Der Versicherer des Busunternehmens sah das anders und legte seinerseits Berufung ein. Seiner Ansicht nach habe der Busfahrer seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt, da er den rückwärtigen Verkehr beobachtet habe, bevor er die Fahrgäste aussteigen ließ. Er habe auch nicht mit einem Ausweichmanöver der Autofahrerin rechnen müssen und daher keinen Anlass gehabt, die Warnblinkanlage einzuschalten. Deshalb sei der Unfall allein von der Autofahrerin und dem geschädigten Mädchen verursacht worden.
Erfolg hatte er damit aber nicht. Das OLG Hamm teilte die Auffassung des Landgerichts. Den Busfahrer treffe aus dem Beförderungsvertrag eine besondere Sorgfaltspflicht, dafür zu sorgen, dass Fahrgäste nicht zu Schaden kommen. Da der Seitenstreifen neben dem Bus zulässigerweise von anderen Fahrzeugen zum Halten oder Parken benutzt werden durfte, hätte er die Warnblinkanlage einschalten müssen, was er jedoch unterlassen habe. Das Mitverschulden der Geschädigten wirkte sich mit 50 Prozent auch gegenüber dem Busfahrer und dem Busunternehmen aus.
Das OLG Brandenburg hat in einer Entscheidung vom 12.07.2022, Az.12 U 203/21, darauf hingewiesen, dass Fußgänger vor und beim Überqueren der Fahrbahn auf den Fahrzeugverkehr achten müssen. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass sie nicht in die Fahrspur eines Fahrzeugs geraten und dieses behindern.
Schließlich ist die Rücksichtnahme auf den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr eine elementare Grundregel des Straßenverkehrs, die jedem Fußgänger, insbesondere beim Überqueren einer Straße, einleuchten muss und deren Missachtung grundsätzlich ein erhebliches Verschulden begründet.
Die Entscheidungen ändern jedoch nichts daran, dass die Führer von Kraftfahrzeugen § 20 Abs. 1 StVO – auch im Gegenverkehr – dazu verpflichtet sind, an einem noch haltenden Omnibus vorsichtig, mit gesteigerter Aufmerksamkeit und mit ausreichendem Seitenabstand vorbeizufahren.
Dies gilt insbesondere auch dann, wenn erkennbar eine größere Anzahl von Kindern aussteigt. In einer solche Situation muss der Kraftfahrer sich gemäß § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Omnibus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist. Im Zweifel ist die seine Geschwindigkeit dann so weit herabzusetzen, dass das Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen gebracht werden kann (OLG Hamm, Beschl. v. 08.02.2024, Az. 7 U 30/23, in Anlehnung an BGH Urt. v. 12.12.2023, Az. VI ZR 77/23).
In den Entscheidungsgründen liest sich das dann folgendermaßen:
“Zwar durfte der Beklagte zu 1 nach § 20 Abs. 1 StVO an sich vorsichtig an dem noch haltenden Bus vorbeifahren, musste sich dabei jedoch im vorliegenden Einzelfall nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung des Klägers ausgeschlossen war. Im Hinblick auf die wahrgenommenen Kinder, die aus dem Bus ausgestiegen waren, war zudem nach § 1 StVO besondere Vorsicht und Rücksichtnahme geboten, um die Kinder nicht zu gefährden (vgl. zur Vorbeifahrt an einem Müllfahrzeug zuletzt BGH Urt. v. 12.12.2023, Az. VI ZR 77/23). Die Geschwindigkeit ist jedenfalls soweit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (vgl. BGH Urt. v. 12.12.2023, Az. VI ZR 77/23).
Nach § 3 Abs. 2a StVO muss sich ein Fahrzeugführer gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt allerdings voraus, dass der Fahrzeugführer die schutzbedürftigen Personen erkennen kann und deren Verhalten oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können (OLG Saarbrücken Urt. v. 28.7.2023, Az. 3 U 14/23; vgl. BGH Urt. v. 10.10.2000, Az. VI ZR 268/99; OLG Hamm Beschl. v. 08.03.2022, Az. 9 U 157/21.
Da der Anwendungsbereich des § 20 Abs. 4 StVO aber lediglich den Schutz der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel vor den Gefahren des Kraftfahrzeugverkehrs erweitern soll (BR-Drs. 371/95, S. 4), sind Fußgänger nicht von der Pflicht entbunden, sich vor und beim Überqueren der Straße vorsichtig zu verhalten.
Wer aus einem Bus aussteigt, muss sich ebenso vorsichtig verhalten (§ 14 Abs. 1 StVO) wie jeder andere Verkehrsteilnehmer. Aber auch wer an einem Omnibus vorbeifährt, muss vorsichtig fahren (§ 20 StVO) – vorausgesetzt, dass Fahrgäste erkennbar ein- oder aussteigen oder das Warnblinklicht eingeschaltet ist
Allerdings zieht nicht jeder Verkehrsunfall mit ein- oder aussteigenden Fahrgästen automatisch die volle Haftung des Autofahrers nach sich. Auch hier kommt es auch die Umstände des Einzelfalls an.
Sollten Sie als Autofahrer in einen Unfall mit einem Fahrgast oder umgekehrt in einen Vorfall mit einem vorbeifahrenden Fahrzeug verwickelt sein, kontaktieren Sie uns frühzeitig.
Auch hier gilt: Voigt regelt!
Aktualisiert am 17.10.2024