Allgemeine Versicherungsbedingungen regeln das vertragliche Leistungsversprechen des Versicherers.
Sie sind „so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Wortlaut der jeweiligen Klausel auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind“ (z.B. BGH, Urt. v. 22.04.2015, Az. IV ZR 419/13). In Einzelfall kann dies dazu führen, dass z.B. die Regeln des Haftpflichtrechts bei der Auslegung ergänzend heranzuziehen sind (vgl. AG Coburg, Urt. v. 15.11.2019, Az. 17 C 852/19).
Praxisbeispiel (LG Kassel, Urteil vom 24.8.2021, Az. 5 O 37/21)
Ein Autofahrer war mit seinem Fahrzeug mit einer Leitplanke kollidiert und machte Schadenersatz aus seiner Vollkaskoversicherung geltend. Der Versicherer verwies jedoch auf seine Versicherungsbedingungen und behauptete, er sei wegen einer vorsätzlich und arglistig begangenen Unfallflucht leistungsfrei. In den Bedingungen heißt es unter Ziffer E.1.1.3: „Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs – Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).“ Weiter heißt es: „Übersteigt ein Schaden durch Entwendung, Brand oder Zusammenstoß des in Fahrt befindlichen Fahrzeugs mit Tieren den Betrag von 150 Euro, sind Sie verpflichtet, das Schadenereignis der Polizei unverzüglich anzuzeigen.“ Da der Autofahrer die unterlassen habe, habe er seine Aufklärungsobliegenheit verletzt.
Der Autofahrer klagte und das Gericht gab ihm Recht
Das Gericht konnte keinen Verstoß des Klägers gegen die in E. 1.1.3 AKB statuierte vertragliche Obliegenheit erkennen.
Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Entgegen der Auffassung des Beklagten war der Kläger insbesondere auch nicht dazu verpflichtet, sich vor Verlassen des Unfallorts (aktiv) bei der Polizei zu melden, wenn – wie hier – innerhalb der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine feststellungsbereiten Personen eintreffen. Denn eine solche Verpflichtung ist den streitgegenständlichen Versicherungsbedingungen nicht zu entnehmen. …
Die Formulierung in den AKB 2015 des Beklagten knüpft an den Tatbestand der Unfallflucht gemäß § 142 Abs. 1 StGB an, indem der Fahrer verpflichtet wird, den Unfallort nicht zu verlassen, ohne die „gesetzlich erforderlichen“ Feststellungen zu ermöglichen und dabei auch die „gesetzlich erforderliche Wartezeit“ zu beachten. Auch der Hinweis auf die „Unfallflucht“ lässt für einen verständigen Versicherungsnehmer den Schluss zu, dass sich seine versicherungsrechtlichen Obliegenheiten mit den an ihn gestellten strafrechtlichen Verhaltensanforderungen nach § 142 Abs. 1 StGB decken und ihm versicherungsrechtlich keine weitergehenden Pflichten auferlegt werden.
Er darf deshalb davon ausgehen, seinen Aufklärungsobliegenheiten gerecht zu werden, wenn er – wie hier – den strafrechtlich sanktionierten Handlungspflichten, die als allgemein bekannt zu gelten haben, gerecht wird.
Eine Pflicht, vor Verlassen des Unfallorts stets die Polizei zu rufen, wenn innerhalb der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine feststellungsbereiten Personen eintreffen, besteht nach § 142 StGB jedoch gerade nicht.
Eine darüber hinausgehende Obliegenheit würde voraussetzen, dass diese in den Versicherungsbedingungen einen Anknüpfungspunkt findet, der dem Versicherungsnehmer verdeutlicht, dass von ihm nicht lediglich die Einhaltung der Wartezeit, sondern weitergehende Aktivitäten gegenüber der Polizei oder der Versicherung erwartet werden. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.”
Als weiteres Beispiel sein ein Urteil des AG München vom 23.05.2023 erwähnt, bei dem der Kaskoversicherer zur Tragung des Werkstattrisikos verurteilt wurde. In den Urteilsgründen hatte das Gericht insbesondere darauf abgestellt, dass der geschädigte Versicherungsnehmer dem Wortlaut der Kaskoversicherungsbedingungen nicht habe entnehmen können, dass der Umfang seines “Anspruchs gegen den Versicherer insoweit generell hinter dem zurückbleiben soll, was im Schadenfall von einem haftpflichtigen Unfallgegner verlanbt werden kann.”