Wer mit dem Gesetz in Konflikt gerät, z.B., weil er die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten hat, ist dem Verfahren nicht hilflos ausgeliefert. Insbesondere hat er einen Anspruch auf die Durchführung eines fairen Verfahrens.
Was dies bedeutet, hat das Bundesverfassungsgericht mit einer Entscheidung vom 04.05.2021 (Az. 2 BvR 277/19) konkretisiert, nachdem es kurz zuvor schon das Thüringer Oberlandesgericht es in seinem Beschluss vom 17. März 2021, Az. 1 OLG 331 SsBs 23/20, treffend auf den Punkt gebracht hatte:
Dem Thüringer Oberlandesgericht zufolge, zählt das „Das Recht auf ein faires Verfahren … zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. In ihm darf der Betroffene nicht bloßes Verfahrensobjekt sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.
Das Gebot fairer Verfahrensführung soll dabei gewährleisten, dass der Betroffene seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und Übergriffe staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren kann. Als aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip resultierendes Prozessgrundrecht steht es dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso zu wie dem Beschuldigten im Strafverfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.03.1992, Az. 2 BvR 1/91) und wendet sich nicht nur an die Gerichte, sondern auch an die Exekutive, soweit diese sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (BVerfG, Beschl. v. 26.05.1981, Az. 2 BvR 215/81; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, Az. 1 Rb 10 Ss 291/19).“
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt zudem, dass ein Betroffener -nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit und gemäß dem Grundsatz der Parität des Wissens – grundsätzlich auch Anspruch auf Zugang zu solchen Inhalten hat, die zum Zwecke der Ermittlung erlangt wurden, aber nicht zur Akte gelangt, bei der Bußgeldbehörde vorhanden sind (VerfGH Stuttgart, Urt. v. 16.01.2023, Az. 1 VB 38/18; OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.06.2022, Az. 3 Ss-OWi 476/22; Würzburg, Beschl. v. 29.12.2020, Az. 1 Qs. 253/20).
Deutlich wird dies immer wieder, wenn es in einem Bußgeldverfahren um die Herausgabe der Rohmessdaten an den Betroffenen geht. So haben z.B. das AG Jülich, Beschl. v. 17.08.2021 (Az. 14 OWi 290/21 (b)), das OLG Stuttgart (Beschl. v. 03.08.2021, Az. 4 Rb 12 Ss 1094/20), das OLG Jena (Beschl. v. 17.03.2021, Az. 1 OLG 331 SsBs 23/20) das AG Leverkusen (Beschl. v. 08.02.2021, Az. 55 OWi 120/21) oder auch das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 16.07.2019, Az. 1 Rb 10 Ss 291/19) Betroffenen ein Recht auf Einsicht in die komplette Messreihe einer Geschwindigkeitsmessung vom Tattag zugesprochen und dies – auch beim standardisierten Messverfahren – mit dem Gebot des fairen Verfahrens begründet, „welches sich wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ableitet und zudem in Art. 6 EMRK statuiert ist.“
Sind überhaupt keine überprüfbaren Daten, d.h. weder Messfoto noch Rohmessdaten vorhanden und sind weder eine technische Überprüfung noch eine nachträgliche Plausibilisierung des Messergebnisses möglich, kann nicht von einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren gesprochen werden (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021, Az. 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 02.11.2021, Az. SsBs 100/2021 (68/21 OWi)).
Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts verletzten den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz). Aus dieser Gewährleistung, die sich mit den entsprechenden Vorgaben des Grundgesetzes decke, folge im Grundsatz das Recht des Betroffenen, in tatsächlich vorhandene Unterlagen über Messgerät und Geschwindigkeitsmessung Einsicht zu nehmen.
Das AG Dortmund hat bereits mehrfach Verfahren gemäß § 47 OWiG eingestellt, da es eine Verletzung des fairen Verfahrens sah.
In dem Verfahren hatte ein Mitarbeiter der Behörde ausgeführt, dass seinem Vorgesetzten zwar Rohmessdaten vorgelegen hätten, dem Verteidiger aber trotz mehrfacher Nachfrage nicht zur Verfügung gestellt worden seien; weder im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde, noch im gerichtlichen Verfahren. Zudem hatte die Verwaltungsbehörde die Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung versagt. (AG Dortmund, Beschl. v. 15.09.22, Az. 729 OWi-263 Js 1114/22-89/22).
Aus denselben Gründen hatte das Gericht ein Verfahren mit Beschluss vom v. 14.12.2023, Az. 729 OWi-260 Js 2315/23-135/23 eingestellt, nachdem dem Verteidiger – entgegen entsprechenden Antrags und auch entgegen der Anordnung des Gerichts Rohmessdaten und Bedienungsanleitung vorenthalten worden waren. Da eine Durchsuchung des Polizeipräsidiums als unverhältnismäßig erschien, wurde das Verfahren auch hier nach § 47 OWiG eingestellt.
Das Bundesverfassungsgericht hat (wiederholt) eine eindeutige Aussage getroffen!
Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht mit den Entscheidungen des Amtsgerichts Rosenheim vom 28.05.2018, Az. 5 OWi 410 Js 799/18 und des OLG Bamberg vom 23.11.2018, Az. 2 Ss OWi 1495/18 befasst hatte, die dem Betroffenen den Zugang zu außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen verwehrt hatten, statuierte es „dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann. Die generelle Versagung des Begehrens des Beschwerdeführers auf Informationszugang, welches dieser im fachgerichtlichen Verfahren hinreichend geltend gemacht hat, wird deshalb der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Gewährleistung nicht gerecht. Entgegen der Annahme der Fachgerichte handelt es sich hierbei auch nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen.“
Vergleichbar heißt es in einem Beschluss des Verfassungsgerichtshofs Rheinland Pfalz vom 22.10.2022, Az. VGH B 57/21: “Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV) im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden. Hierdurch wird dem Gedanken der „Waffengleichheit“ Rechnung getragen (VerfGH RP, Beschl. v.22.07.2022, Az. VGH B 30/21; v. 13. 12.2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413]; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18). Die Legitimität der Anerkennung standardisierter Messverfahren steht daher in engem Zusammenhang mit der Anerkennung von Einsichts- und Überprüfungsrechten der Verteidigung (vgl. auch Cierniak, zfs 2012, 664 [670]; ders./Niehaus, DAR 2014, 2 [7]). Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland Pfalz, “erfordert der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung” Beschl. v. 13.12.2021, Az. VGH B 46/21)
Da das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor festgestellt hatte, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch ein Anspruch Informationszugang auch zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen gehört (z.B. Beschl. v. 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18; v. 28.04.2021, Az. 2 BvR 1451/18), kam der Beschluss nicht überraschend (s.a. OLG Hamm, Beschl. v. 07.06.2022, Az. 5 RBs 148/22; OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021, Az. 4 Rb 25 Ss 1023/20; LG Hagen, Beschl. v. 30.09.2021, Az. 46 Qs 59/21).
Ungeachtet dessen, hatte das OLG Koblenz zu der Rechtsfrage, ob ein in einem standardisierten Messverfahren gewonnenes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden darf, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen (Roh-)Messdaten der Tagesmessreihe zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs für erforderlich erachtet (Beschl. v. 01.02.2022, Az. 3 OWi 32 SsBs 99/21).