Die Situation ist klassisch und der Schaden ist in der Regel überschaubar: Ein Fahrzeug fährt rückwärts aus der Parklücke und kollidiert mit einem anderen. Dabei kollidiert es entweder mit einem Fahrzeug, das sich dem Parkplatz auf der Fahrspur nähert, oder es stößt mit einem anderen zusammen das aus einer gegenüberliegenden Parklücke ausfährt.
Standardmäßig wird bei einer Kollision argumentiert, dass ein beiderseitiger Verstoß gegen identische Sorgfaltspflichten grundsätzlich eine Haftungsquote von 50 % begründet. Eine höhere Quote kommt danach nur in Betracht, wenn einer der Unfallbeteiligten nachweisen kann, dass er bereits längere Zeit gestanden hat.
Der erste Anschein zählt…
Gegen den Rückwärtsfahrenden spricht daher zunächst der erste Anschein, demzufolge er allein den Unfall verschuldet hat. Schließlich stellt Rückwärtsfahren generell einen gefährlichen Fahrvorgang dar und der Rückwärtsfahrende ist dazu verpflichtet, alles zu vermeiden, was andere Verkehrsteilnehmer oder Sachen gefährdet oder gar schädigt. Dem allgemeinen Erfahrungssatz zufolge gilt daher zunächst, „dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nach § 1 StVO in Verbindung mit der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat“ BGH, Urt. v. 11.10.2016, Az. VI ZR 66/16). Dass auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht § 9 Abs. 5 StVO, sondern eher Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§ 1 Abs. 2 StVO) gelten soll, ändert daran jedoch nur wenig. Wer auf einem Parkplatz rückwärts fährt, muss sich so daher verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (BGH, Urt. v. 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15). Das AG Frankenthal (Pfalz) sieht das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme auf beim Rückwärtsfahren auf Parkplätzen dann als erfüllt an, wenn der Fahrzeugführer „bei stetiger Bremsbereitschaft mit Schrittgeschwindigkeit, also der sehr langsamen Geschwindigkeit eines normal gehenden Fußgängers (ca. 4 bis 7 km/h)“ fährt“ (Urt. v. 28.10.2020, Az. 3c C 101/19; s.a.OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.03.2017, Az. I-1 U 97/16; OLG Saarbrücken, Urt. v. 09.10.2014, Az. 4 U 6/14).
).
Und wenn feststeht, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, d.h. Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat (BGH, Urt. v. 26.01.2016, Az. VI ZR 179/15)
… außer es liegen Besonderheiten vor
Der erste Anschein reicht allerdings nicht aus, wenn weitere Umstände vorliegen, die untypisch nach der Lebenserfahrung bei solchen Fallgestaltungen eines Unfalls sind.
So meinten die Richter am BGH, dass es untypisch sei, wenn
Vielmehr gebe es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass auch der Fahrzeugführer, der sein Fahrzeug vor der Kollision auf dem Parkplatz zum Stillstand gebracht hat, die ihn treffenden Sorgfaltspflichten verletzt hat. Nur dann können aber die aus einem typischen Geschehen folgenden Schlüsse auf ein Verschulden des Fahrzeugführers Anwendung finden.
Der BGH bewertet damit auch die besondere Situation auf Parkplätzen.
Hier müssen Verkehrsteilnehmer jederzeit damit rechnen, dass rückwärtsfahrende oder ein- und ausparkende Fahrzeuge ihren Verkehrsfluss stören. Sie müssen daher von vornherein mit geringer Geschwindigkeit und bremsbereit fahren, um jederzeit anhalten zu können.
Ist der Fahrer beim Rückwärtsfahren vor einer Kollision zum Stehen gekommen, hat er damit seiner Pflicht zum jederzeitigen Anhalten genügt. Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden hat dann keinen Raum mehr. Der Umstand, wonach ein sorgfaltswidriges Verhalten des Geschädigten – sofern es nicht unstreitig gegeben ist – positiv festgestellt werden muss (BGH, Urt. v. 26.01.2016, Az. VI ZR 179/15).
Übrigens:
Einem Urteil des OLG Saarbrücken zufolge (Az. 4 U 6/20 v. 13.08.2020), ist auf das Rückwärtsfahren nicht § 9 Abs. 5 StVO, sondern § 10 Satz 1 StVO anzuwenden. Begründet hat es dies damit, dass § 9 StVO nur für Verkehrsvorgänge anwendbar sei, die auf Straßen stattfinden und nicht auf das Einfahren auf eine Straße von einem Parkplatz.
Siehe auch
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