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Einsichtnahmerecht

Informationen
03.01.2023

Betroffene eines Bußgeldverfahrens haben ein Recht auf Einsicht in sämtliche existenten, d.h. auch in die Unterlagen, die sich nicht bei den Akten befinden. Dies umfasst nicht nur körperlich vorhandene, sondern auch digitale Falldateien inklusive Rohmessdaten der kompletten Messreihe des Tattages (z.B. OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021, Az. 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21; AG Dillingen, Beschl. v. 14.01.2022, Az. 304 OWi 7/22. Dabei spielt es keine Rolle ist irrelevant, ob dieses sich in den Gerichtsakten, sondern in den Händen der Verwaltungsbehörde befinden.

 

Das Recht auf Einsichtnahme folgt aus dem Gebot des fairen Verfahrens, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ableitet und zudem in Art. 6 EMRK statuiert ist. Das Recht zur Einsicht ist damit Ausdruck der zu garantierenden Parität des Wissens im Sinne der Waffengleichheit. Die Verweigerung des Einsichtsrechts verletzt den Grundsatz des fairen Verfahrens (VGH Rheinland-Pfalz v. 13.12.2021, Az. VGH B 46/21; AG Heilbad-Heiligenstadt, Beschl. v. 15.11.2021, Az. OWi 201/21; OLG  Saarbrücken, Beschl. v. 02.11.2021, Az. SsBs 100/2021 (68/21 OWi), OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021, Az. 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21).

 

Messdaten müssen ordnungsgemäß gewonnen worden sein!

Betroffene haben daher einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, Az. 1 Rb 10 Ss 291/19; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018, Az. 3 Ws (B) 168/18). Eine der Folgen dessen ist, dass sie auch ein Recht auf die Herausgabe der Datensätze „standardisierter Messverfahren“. Dem Kammergericht zufolge, stehen einem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung weitreichende Maßnahmen der Einsichtnahme auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu.  Es existiert kein Erfahrungssatz, wonach ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert (BGH, Beschl. v. 19.08.1993, Az. 4 StR 627/92). In Hinblick auf die ordnungsgemäße Erhebung der Messdaten, haben Betroffene daher auch ein Einsichtsrecht in die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen des Messgerätes, d.h. die „Lebensakte“ des Geräts (VGH Rheinland Pfalz, Az. VGH B 46/21). Das Recht auf Einsichtnahme umfasst dabei auch Gebrauchsanweisungen bzw. Bedienungsanleitungen (OLG Celle, Beschl. v. 22.02.2022, Az. 2 Ss (OWi) 264/21), sondern auch die Schulungsnachweise des Messbeamten und eine Kopie der digitalen Falldaten. Die Daten sind dabei im gerätespezifischen Formal nebst dazugehörigem öffentlichen Schlüssel (Token) und für die gesamte Messreihe des Vorfallstages herauszugeben (AG Dillingen, Beschl. v. 14.01.2022, Az. 304 OWi 7/22).

 

Recht auf Einsichtnahme und Datenschutz

 

Hinsichtlich der Wahrung des Datenschutzes hat das LG Köln in einem Beschluss vom 11.10.2019, Az. 323 QS 109/19 konstatiert, dass datenschutzrechtliche Bedenken einer Einsichtnahme in die Falldatensätze nicht entgegen stehen.

 

Hinsichtlich der Zurverfügungstellung einer gesamten Messserie und etwaiger Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer, wenn von diesen jeweils Foto und Kennzeichen – d.h. personenbezogene Daten – übermittelt werden, überwiegt vorliegend das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren.

 

Abgesehen davon, „dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden“, ist  zudem „von einem Verteidiger als Organ der Rechtspflege auch zu erwarten, dass die ihm übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden“ (vgl. LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019, Az. 5 Qs 51/19; LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019, Az. 4b Qs 114/18). Zudem ist der aufgezeichnete und festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf nur auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt (LG Neubrandenburg: Beschl. v. 30.09.2015, Az. 82 Qs 112/15).

 

Reparatur- und Wartungsnachweise sind herauszugeben

Wie der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz am 12.12.2021 (Az. VGH B 46/21) sowie 28.10.2022 festgestellt hat (Az. VGH B 57/21) ist im Bußgeldverfahren umfassende Auskunft zu den Reparatur- und Wartungsunterlagen des kon­kreten Messgerätes – auch über den Tag der Messung hinaus – zu erteilen. Begründet hat das Gericht dies damit, dass diese Informationen zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung des Messgerätes nicht schlechthin ungeeignet sind.

Fehlt allerdings die Eignung, d.h. können die geforderten Dokumente und Unterlagen nicht einmal eine theoretische Aufklärungschance begründen, um Funktionsbeeinträchtigungen des Messgeräts aufzudecken, soll eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ausgeschlossen sein (VGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 27.10.2022, Az. VGH B 57/21).

 

Siehe auch: Recht auf faires Verfahren

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Dr. Wolf-Henning Hammer

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