Kollidieren zwei Kraftfahrzeuge an einer vorfahrtberechtigten Kreuzung oder Einmündung, so spricht zunächst der Beweis des ersten Anscheins für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen (BGH, Urt. v. 15.06.1982, Az. VI ZR 119/81; v. 18.11.1975, Az. VI ZR 172/74).
Von einem Wartepflichtigen, der in eine bevorrechtigte Straße einbiegen will, wird eine erhöhte Sorgfaltspflicht erwartet. Das bedeutet, dass er misstrauisch in die Vorfahrtstraße einfahren und im Zweifel warten muss (BGH, Urt. v. 26.09.1995, Az. VI ZR 151/94; KG Urt. v. 15. Januar 1996, Az. 12 U 304/95). Hat er dies alles nachweislich getan, d.h. hat er seine Sorgfaltspflichten erfüllt und ist es dennoch zu einem Unfall gekommen, kann die Sache ganz anders aussehen.
So wie Fahrzeugführer im fließenden Verkehr darauf vertrauen dürfen, dass niemand ihre Fahrspur kreuzt oder behindert (LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 25.08.2022, Az. 2 O 5678/21), dürfen Vorfahrtsberechtigte darauf vertrauen, dass ihr Vorfahrtsrecht auf ungehinderte Vorbeifahrt beachtet wird (BGH, Urt. v. 04.02.1953, Az. VI ZR 70/52, Rn. 9, m.w.N.).
Dies gilt auch gegenüber Einsatzfahrzeugen mit Sonderrechten. Denn Blaulicht und Martinshorn gewähren kein unbedingtes Vorfahrtsrecht. Sie verleihen dem Fahrzeugführer lediglich die Befugnis, sich unter bestimmten Voraussetzungen über grundsätzlich fortbestehende Vorfahrtsrechte anderer – nach allgemeinen Regeln vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer -hinwegzusetzen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.06.2013, Az. I-1 U 195/12).
Aber auch wenn Vorfahrtsberechtigte die ihnen zustehende Rechtsposition grundsätzlich selbst dann behalten, wenn sie zu schnell fahren (BGH, Urt. v. 14.02.1984, Az. VI ZR 229/82), bedeutet dies noch lange keinen Freibrief. Denn wo ein zu schnell fahrender Vorfahrtsberechtigter die äußerste ihm zumutbare Sorgfalt außer Acht lässt, kann er sich z.B. auch nicht nicht auf ein “unabwendbares Ereignis” berufen (KG Berlin, Urt. v. 11.10.1976, Az. 12 U 2014/76).
Außerdem müssen Vorfahrtsberechtigte reagieren, sobald erkennbare Umstände auf eine bevorstehende Vorfahrtsverletzung hindeuten (BGH, Urt. v. 25.03.2003, Az. VI ZR 161/02; OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.06.2003, Az. I-1 U 186/01) oder eine unklare Verkehrslage besteht (z.B. LG Bückeburg, Urt. v. 01.12.2009, Az. 2 O 164/08). Abgesehen davon entbindet das Vorfahrtsrecht nicht von der Pflicht, das Rechtsfahrgebot zu beachten (KG, Beschl. v. 28.12.2006, Az. 12 U 47/06).
Auch bei Unfällen mit Vorfahrtsberechtigten ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint. Schon deshalb ist Unfallbeteiligten davon abzuraten, vorschnell und womöglich noch auf Drängen des Unfallgegners ein Schuldeingeständnis abzugeben. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Dinge bei näherer Betrachtung ganz anders darstellen, als der Unfallgegner behauptet.
Zudem gilt: Je mehr der Unfallgegner auf ein Schuldeingeständnis drängt, desto mehr scheut er eine genauere Untersuchung und Aufklärung des tatsächlichen Unfallhergangs. Denn selbst wenn der Unfallgegner vorfahrtsberechtigt gewesen sein sollte, bedeutet dies noch lange nicht, dass er keine Mitschuld an dem Unfall trägt.
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