hello world!
hello world!

Wer haftet beim Spurwechsel?

Landgericht Fulda, Urteil vom 20. Januar 2017, Az. 1 S 91/16

Fast jeder kennt die Situation. Auf der Autobahn wechselt ein Fahrzeug zügig die Spur und ein nachfolgendes Fahrzeug fährt auf. Dann schieben sich die Kontrahenten gegenseitig die Schuld zu, wobei der Spurwechsler oft lapidar sagt: "Wer auffährt, ist schuld". Ob dem tatsächlich so ist, hatte das Landgericht Fulda in zweiter Instanz zu entscheiden.
Informationen
27.02.2017
ca. 4 Minuten
Kategorien
Wer haftet beim Spurwechsel?

Was ist dran an der Redewendung “Wer auffährt, hat Schuld”?

Die Aussage ist nicht nur umgangssprachliches Allgemeingut. Sie spiegelt auch, zumindest was den Anscheinsbeweis angeht, die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wider.

Danach spricht der erste Anschein tatsächlich gegen den Auffahrenden. Denn dieser hat entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten (§ 4 Abs. 1 StVO), war unaufmerksam (§ 1 StVO) oder ist mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren (vgl. BGH v. 12.12.2006, Az. VI ZR 75/06; BGH v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16; v. 13.12.2011, Az. VI ZR 177/10; v. 30.11.2010, Az. VI ZR 15/10; v. 16.01.2007, Az. VI ZR 248/05; v. 18.10.1988, Az. VI ZR 223/87; v. 06.04.1982, Az. VI ZR 152/80). Da sich aber auch nachfolgende Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig verhalten können, gibt es keine naturgesetzliche Gewissheit dafür, dass der Auffahrende immer schuld ist.

So ist der grundsätzlich gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis z.B. dann entkräftet, wenn das vorausfahrende Fahrzeug im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abbricht, wieder vor dem auffahrenden Fahrzeug einschert und dort sein Fahrzeug bis zum Stillstand abbremst (OLG Frankfurt, Urt. v. 29.04.2025, Az. 9 UZ 5/24).

In derartigen Konstellationen gilt, dass der zeitliche Zusammenhang zwischen dem (gescheiterten) Spurwechsel und dem Auffahren dann nicht unterbrochen ist, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision maximal eine Sekunde auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 7.10.2022, Az. 7 U 51/22; OLG Celle, Urt. v. 11.12.2024, Az. 14 U 91/23).

Was war geschehen?

Die Parteien fuhren hintereinander auf der Autobahn. Der Beklagte fuhr hinter dem Kläger. Nach einem unstreitigen Fahrstreifenwechsel des Klägers fuhr der Beklagte auf dessen Fahrzeug auf. Dabei wurden das Fahrzeug des Klägers hinten links und das des Beklagten vorne rechts beschädigt. Der Kläger verlangte von dem Beklagten Ersatz des an seinem Fahrzeug entstandenen Schadens. Der Beklagte sah hierfür jedoch keine Veranlassung, insbesondere im Hinblick auf den Fahrstreifenwechsel des Klägers. Da sich die Parteien nicht einigen konnten, mussten zunächst das Amtsgericht Bad Hersfeld und anschließend das Landgericht Fulda entscheiden.

Was sagen die Gerichte?

Das Amtsgericht Bad Hersfeld verurteilte den Beklagten mit Urteil vom 01.08.2016 (Az. 10 C 363/16 (70)) zur Zahlung von Schadensersatz in voller Höhe. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es sich bei dem Fahrzeug des Klägers eindeutig um einen Heckschaden und bei dem Fahrzeug des Beklagten eindeutig um einen Frontschaden handele. Daher liege ein Auffahrunfall vor und bei diesem spreche der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden. Es sei davon auszugehen, dass der Beklagte entweder unaufmerksam gewesen sei oder den gebotenen Sicherheitsabstand nicht eingehalten habe, weshalb ihn das alleinige Verschulden treffe. Die teilweise Überdeckung der Fahrzeuge im Front- und Heckbereich lasse für sich genommen nicht auf einen atypischen Geschehensablauf schließen (vgl. OLG München, Urteil vom 25.10.2013, Az. 10 U 964/13). Die Behauptung des Beklagten, der Kläger habe unmittelbar vor der Kollision den Fahrstreifen gewechselt, hätte er beweisen müssen. Dies hat er nicht getan. Zudem geht auch die Polizeiakte von einem typischen Auffahrunfall aus.

Der Anscheinsbeweis greift nicht immer!

Das Landgericht Fulda sah die Sache differenzierter. Zunächst stellte es fest, dass der Anscheinsbeweis nur dann greift, wenn der gesamte festgestellte Unfallhergang nach der Lebenserfahrung typischerweise auf ein schuldhaftes Handeln des Verkehrsteilnehmers, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis greift, hindeutet. Lässt sich dies nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, ist für den Anscheinsbeweis kein Raum.

Dies hatte auch der Bundesgerichtshof zeitlich vorgelagert und in anderer Sache so gesehen (Urt. v. 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16). In Anknüpfung an das BGH-Urteil vom 13.12.2011 (Az. VI ZR 177/10) führte er aus, dass ein Auffahrunfall allein für den Anscheinsbeweis nicht ausreiche, wenn weitere Umstände des Unfallgeschehens bekannt seien, die – wie etwa ein vor dem Auffahren durchgeführter Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 07.11.2016, Az. I-6U 79/16; Urt. v. 03.03.2012, Az. 6 U 174/10; LG Bonn, Urt. v. 27.01.2027, Az.1 O 181/16 ) – auf einen Auffahrunfall hindeuteten.

Abgesehen davon darf ein Spurwechsler nicht darauf vertrauen, dass ihm der Spurwechsel ermöglicht wird. Auch im Reißverschlussverfahren gilt der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler, wenn dieser beim Einfädeln mit einem Fahrzeug kollidiert (vgl. LG Hamburg, Urt. v. 03.03.2023, Az. 337 O 50/22).

Daraus folgt, dass die Details des Einzelfalls in jedem Fall aufzuklären und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen sind. Lässt sich der Sachverhalt jedoch weder im Rahmen der Anhörung noch beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten aufklären, rechtfertigt dies – so z.B. das Landgericht Fulda – dem Grunde nach eine hälftige Schadensteilung.

Ergänzend sei auf ein Urteil des OLG München vom 09.02.2022, Az. 10 U 1962/21 hingewiesen.

Den Leitsätzen zufolge, kann bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen , dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist.

Mangels Typizität scheidet ein Anscheinsbeweis aus, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, aber sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist.

Praxishinweis

In § 1 Abs. 2 StVO heißt es: Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat dies in seinem Urteil vom 06.04.1982 (Az. VI ZR 152/80) so formuliert, dass die Fahrweise so einzurichten ist, dass man notfalls noch anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht. Aber auch dann ist nicht alles eindeutig und bedarf manchmal zweier Instanzen.

Wer in einen Auffahrunfall verwickelt ist, sollte auf jeden Fall die Ruhe bewahren. Nicht immer ist alles so, wie es auf den ersten Blick scheint. Um dies einem Unfallgegner oder vor Gericht klar zu machen, bedarf es in der Regel anwaltlicher Unterstützung!

Sollten Sie in einen Unfall verwickelt gewesen sein und der Versicherer des Unfallgegners Ihre berechtigten Schadenersatzansprüche ablehnen, sprechen Sie mit uns!

Voigt regelt!

FAQ

Bildnachweis: Alexa / Pixabay

Aktualisiert am 02.06.2025

Beitrag teilen bei
Zurück zur Übersicht
calendar-fullhistorymagnifiercrossWordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner