OLG Hamm, Urteil vom 12.08.2016, Az. 11 U 121/15
Als ein Autofahrer gegen 08:30 Uhr eine Landstraße außerhalb geschlossener Ortschaften befuhr, verlor er in einer Kurve, die weder ein besonderes Gefälle noch eine seitliche Neigung aufwies, aufgrund von Straßenglätte die Kontrolle über sein Fahrzeug und verunfallte. Da die Gemeinde an dieser Stelle nicht gestreut hatte, verlangte er von ihr Schadensersatz. Das Landgericht hatte seiner seiner Klage in vollem Umfang stattgegeben. Allerdings war das nicht von Bestand, denn das OLG Hamm änderte das Urteil und wies die Klage in vollem Umfang ab.
Grundsätzlich, so das OLG Hamm, gehört es zu den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten der Gemeinde, in deren Gebiet die Straße verläuft, diese in einem Zustand zu erhalten, der eine gefahrlose Benutzung ermöglicht. Dazu gehört auch der Winterdienst, also das Streuen und/oder Räumen.
Allerdings sind sowohl die Räum- als auch die Streupflicht durch das Kriterium der wirtschaftlichen Zumutbarkeit begrenzt. Denn es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass nicht alle Straßen zu jeder Zeit gleichzeitig und vollständig gesichert werden können. Nach gefestigter und einhelliger höchstrichterlicher Rechtsprechung sowie allgemeiner Auffassung in der Literatur sind die Verkehrssicherungspflichtigen daher nur ausnahmsweise zur Abwehr von Glättegefahren auf öffentlichen Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften verpflichtet, und zwar grundsätzlich nur an besonders gefährlichen Stellen.
Eine solche besondere Gefahrenstelle liegt vor, wenn der Verkehrsteilnehmer bei der für Fahrten auf winterlichen Straßen zu fordernden gesteigerten Beobachtung des Straßenzustandes und der damit zu fordernden gesteigerten Sorgfalt den die Gefahr begründenden Straßenzustand nicht oder nicht rechtzeitig erkennen und deshalb die Gefahr nicht beherrschen kann.
Demgegenüber liegt nach Auffassung des OLG Hamm eine besonders gefährliche Stelle dann nicht vor, wenn ein sorgfältiger Kraftfahrer unter Berücksichtigung der bei winterlichen Straßenverhältnissen gebotenen Vorsicht mit dem Auftreten von Glätte an der konkreten Stelle rechnen musste und die Gefahr der Stelle auch erkennbar war. Und genau nach diesen Kriterien lag nach Auffassung des Senats hier keine Gefahrenstelle vor.
“Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann das bloße Vorhandensein einer Glättestelle im Kurvenbereich, aufgrund derer ein Pkw von der Fahrbahn abkommen kann, für die Annahme einer besonders gefährlichen Stelle im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichen. Entscheidend ist vielmehr, ob die fragliche Gefahrenstelle bei Glatteis eine besondere Gefährlichkeit aufweist, die über die allgemeine Glättegefahr hinausgeht und zudem nicht erkennbar und beherrschbar ist. Andernfalls wäre stets jede Straßenkurve streupflichtig, was der von der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung vorgenommenen Begrenzung der Streupflicht durch das Kriterium der wirtschaftlichen Zumutbarkeit offensichtlich widersprechen würde.”
In einem anderen Sachverhalt kam das OLG Hamm dagegen zu der Überzeugung, dass selbst ein zweimaliges Abstreuen mit Salz nicht immer ausreicht und mitunter sogar noch mit einem anderen Mittel nachgestreut werden muss.
In einem Urteil vom 1.12.2023 (Az. 11 U 32/22), bei dem es um das Abstreuen eines innerstädtischen Fußgängerüberwegs ging, hatte das OLG Hamm festgestellt, “dass die Salzstreuung nicht ausreichte. Die Lufttemperatur habe -10° Celsius betragen, es sei von einer Eisschicht von mehr als 1 cm Dicke auszugehen gewesen. Um zu verhindern, dass das durch das Salz angetaute Wasser direkt wieder gefriere und dadurch die Glättebildung sogar noch verstärkte, sei eine mindestens 13 %ige Salzlösung erforderlich gewesen. Die aufgebrachte Salzmenge sei diesen Anforderungen nicht gerecht geworden, die Verkehrssicherungspflicht damit nicht erfüllt worden. Bei diesen Wetterverhältnissen hätte darüber hinaus mit Split dafür gesorgt werden müssen, dass im Bereich der Fußgängerüberwege Trittsicherheit gegeben ist.”
Für Landgericht Aachen war für die Beurteilung des Umfangs der Streupflicht an einer Bushaltestelle, dass diese unstreitig die einzige Bushaltestelle für einen Ort mit über 500 Einwohnern war. Obgleich sie nicht im Ortsmittelpunkt, sondern an der Landstraße belegen war, ergab sich ihre erhebliche Verkehrsbedeutung daraus, dass gerade die im Winter besonders wichtigen öffentlichen Verkehrsmittel nur über diese Bushaltestelle erreicht werden konnten. Die besondere Verkehrsbedeutung zog wiederum eine entsprechende Sicherungs- und damit auch Streupflicht nach sich (Urt. v. 24.05.2018, Az. 12 O 430/17).
Außerhalb geschlossener Ortschaften muss nicht jede Straße flächendeckend gestreut werden. Man kann sich also nicht auf eine völlig gefahrlose Fahrbahn verlassen und muss deshalb zusätzliche Vorsicht walten lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn nicht die gesamte Straße, sondern nur einzelne Fahrbahnabschnitte vereist sind. Im Innenstadtbereich oder an Orten mit besonderer Bedeutung kann das schon ganz anders aussehen.
Wie weit reicht die Räum- und Streupflicht?
Aktualisiert am 06.03.2025