OLG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2025, Aktenzeichen 6 U 151/24
In dem vom Landgericht entschiedenen Sachverhalt waren zwei Fahrzeuge kollidiert, die auf einer Landstraße in entgegengesetzten Fahrtrichtungen unterwegs waren. Der Unfall ereignete sich, als die Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs vor Beginn einer baulichen Trennung in der Mitte auf die zweispurige Gegenfahrbahn geriet, obwohl sich dort eine durchgezogene doppelte Leitlinie befand. Sie befand sich dann – entgegen der Fahrtrichtung – auf der Fahrspur des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs.
Das Landgericht Tübingen nahm eine Haftungsverteilung von 1/3 (Klägerin) zu 2/3 (Beklagte) an, da es das Hauptverschulden bei der „Geisterfahrt” des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs sah. Das Mitverschulden des Fahrers des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs leitete es aus dessen überhöhter Geschwindigkeit (80 km/h bei erlaubten 50 km/h) ab.
Das OLG Stuttgart hob das Urteil jedoch wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers auf. Seiner Ansicht nach hatte das Landgericht den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt, indem es einen zentralen, streitigen Punkt übergangen hatte: Die Beklagte hatte behauptet und unter Beweis gestellt, dass das von ihrer Versicherungsnehmerin geführte Fahrzeug bereits gestanden hatte, als das bei der Klägerin versicherte Fahrzeug anfuhr. Dies hätte das Unfallgeschehen in einem anderen Licht erscheinen lassen können. Nicht als Reaktion auf eine plötzlich auftauchende Geisterfahrerin, sondern als Auffahren auf ein stehendes Hindernis – mit möglicher Alleinhaftung des Fahrers des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs.
Hinzu kam, dass das Landgericht einen Beweisantritt des verklagten Versicherers ignorierte, demzufolge die Fahrerin des bei ihr versicherten Fahrzeugs sogar schon ausgestiegen war und warnend gewunken hatte.
Diese Versäumnisse seien entscheidungserheblich, da sie die Haftungsabwägung grundlegend beeinflussen könnten. Am Ende verwies das Oberlandesgericht den Fall daher zur erneuten Verhandlung und umfassenden Beweisaufnahme, einschließlich der Zeugenvernehmung aller beteiligten Personen, zurück.
Das Urteil zeigt, wie bedeutsam eine vollständige Würdigung des Parteivorbringens und eine sorgfältige Beweisaufnahme sind – insbesondere bei der komplexen Haftungsverteilung nach einem Verkehrsunfall. Die Entscheidung des OLG betont zudem den hohen Stellenwert des rechtlichen Gehörs im Zivilprozess.
Rechtsanwälte haben darauf hinzuwirken, dass das mit der Sache befasste Gericht zentrale Argumente, insbesondere zum wechselseitigen Verschulden, nicht übergeht. Ignoriert das Gericht entsprechende Hinweise und Anträge, liegt ein gravierender Verfahrensfehler vor, der eine Aufhebung und Zurückverweisung rechtfertigt. In einem solchen Fall ist es Aufgabe des Rechtsanwalts, Berufung einzulegen.
Die zugrundeliegende Entscheidung betraf zwar den Streit zweier Versicherer untereinander. Sie lässt sich jedoch auf jeden anderen Unfall übertragen.
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