OLG Schleswig, Urteil vom 11.02.2025, Az. 7 U 14/24
Eine unklare Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO liegt vor, wenn nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden darf, etwa weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun wird (z.B. OLG Brandenburg, Urt. v. 16.01.2025, Az. 12 U 106/22, m.w.N.).
Das Überholen einer Kolonne auf einer gut übersichtlichen Strecke ist oftmals unproblematisch. Wenn aber ein Auto außerhalb einer geschlossenen Ortschaft auf einer Landstraße eine langsam werdende Kolonne hinter einem LKW überholt, der sich kurz vor einer Einmündung auf der linken Seite befindet, ist die Verkehrslage unklar im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO. Dies gilt jedenfalls dann wenn der überholende PKW-Fahrer die Einmündung kennt ist und er nicht darauf achtet, ob der LKW z.B. den Blinker gesetzt hat oder sonstige Anzeichen dafür sprechen, dass der LKW links abbiegen will.
Wenn es dann zu einem Unfall kommt, weil der LKW-Fahrer die vorgeschriebene Rückschau nicht unmittelbar, sondern bereits einige Sekunden vor dem Abbiegen gehalten hat, muss der Überholende sich ein Mitverschulden in Höhe von 25% anrechnen lassen.
Dass ein Abbiegender gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO dazu verpflichtet ist, kurz vor dem Abbiegen eine sogenannte “letzte Rückschau” durchzuführen, ändert – zumindest beim Linksabbiegen auf einer Landstraße außerhalb einer geschlossenen Ortschaft – nichts daran.
Wie und zu welchem Anteil die Haftung zwischen den Unfallbeteiligten aufzuteilen ist, richtet sich nach § 17 Abs. 1, 2, § 18 Abs. 2 StVG, wobei die Umstände des Einzelfalls eine entscheidende Rolle spielen.
Der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zufolge, sind die Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten dabei gegeneinander abzuwägen und zu gewichten, wobei insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (z.B. BGH, Urt. v. 28.02.2012, Az. VI ZR 10/11; OLG Frankfurt, Urt. v. 31.03.2020, Az. 13 U 226/15).
Die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge betreffend, sind dabei allerdings nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände berücksichtigungsfähig.
In dem hier zu entscheidenden Fall war relevant, dass der Fahrer des PKW unmittelbar und ohne vorheriges Bremsen zum Überholen angesetzt hatte, nachdem zuvor er mit höherer Geschwindigkeit auf die Kolonne aufgeschlossen hatte. Die Folge war, dass der Anscheinsbeweis nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO, wonach anzunehmen ist, dass derjenige, der nach links in eine Grundstückseinfahrt einbiegt, der Anschein, den Unfall dadurch verschuldet zu haben, dass er die besonderen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5 StVO nicht beachtet hat, nicht gegen den LKW-Fahrer gelten konnte.
Dennoch war der LKW-Fahrer nicht außen vor. Denn nach der Beweisaufnahme stand fest, dass der LKW-Fahrer gegen seine Pflicht zur doppelten Rückschau (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO) verstoßen hatte. Anders als vorgeschrieben, hatte er „vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen“ nicht hinreichend auf den nachfolgenden Verkehr geachtet.
Das OLG Schleswig brachte dies folgendermaßen auf den Punkt: „Entscheidend bei der Rückschau ist nicht, ob vor dem Abbiegen zweimal Rückschau gehalten wurde, sondern wann. Die zweite Rückschau hat unmittelbar vor dem Abbiegen zu erfolgen. Durch die Rückschaupflicht soll insbesondere eine Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug verhindert werden. Die doppelte Rückschaupflicht ist zwingend notwendig, da sich die Verkehrslage nach der ersten Rückschau kurzfristig ändern kann und das Risiko des „toten Winkels“ dadurch minimiert werden soll.“
Gerade außerhalb geschlossener Ortschaften ist damit zu rechnen, dass sich schnellere Fahrzeuge von hinten nähern. Ein bloßer Blick in den Rückspiegel genügt dafür nicht.
Ferner sind „zur Rückschau … sowohl der Innen- als auch der Außenspiegel zu benutzen; zur Überbrückung eines toten Winkels muss sich der Abbiegende ggf. zusätzlich auf andere Weise vergewissern, ob der Abbiegevorgang ohne Gefährdung nachfolgender Verkehrsteilnehmer durchgeführt werden kann (OLG Köln, Urt. v. 13.10.1994, Az. 18 U 42/94). Die doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 S. 4 Halbs. 1 StVO ist nicht gewahrt, wenn es zwar zu einem „doppelten Schulterblick“ kommt, der zweite Schulterblick jedoch nicht unmittelbar vor dem Abbiegen erfolgt (OLG Hamm, Urt. v. 08.07.2022, Az. 7 U 106/20).
Das Überholen einer erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit. Wer aus einer Kolonne ausschert um nach links abzubiegen darf sich insbesondere nicht darauf verlassen, dass sich von hinten kein überholendes Fahrzeug (PKW oder Motorrad) nähert. Um dies auszuschließen, ist eine „doppelte Rückschau“ vorzunehmen, deren zweites Mal unmittelbar vor dem Abbiegen zu erfolgen hat. Die Klärung der Verschuldensanteile der Beteiligten und der schadenersatzrechtlichen Fragen ist in der Regel kompliziert.
Wer in einen derartigen Unfall verwickelt ist, sollte daher sein Glück nicht auf eigene Faust versuchen, sondern uns kontaktieren!