OLG Schleswig, Urteil vom 06.02.2024, Az. 7 U 94/23
Der Unfall hatte sich ereignet, als ein Autofahrer nach rechts in sein Grundstück einbiegen wollte, wozu er seine Geschwindigkeit reduziert und rechts geblinkt hatte. Allerdings war er nicht gleich abgebogen, sondern zunächst zur Fahrbahnmitte hin ausgeschert. Da der nachfolgende Fahrer im gleichen Moment zum Überholen angesetzt hatte, war es zu einer Streifkollision gekommen. Der Streit über den jeweiligen Verschuldensanteil sowie den damit zusammenhängenden Schadenersatz schloss sich an.
Das OLG Schleswig wertete den Überholvorgang als unzulässig. Das Verschulden sah es zu 60 Prozent beim überholenden und zu 40 Prozent beim abbiegenden Fahrer.
Es begründete dies unter anderem damit, dass der überholende Fahrer mit einem Ausscheren des vor ihm fahrenden Fahrzeugs hätte rechnen müssen. Dass dessen Fahrer den Abbiegevorgang angekündigt, aber dennoch nach nicht nach links ausgeholt und damit gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen hatte, änderte daran nichts.
Für das Gericht war die unklare Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO entscheidend. Diese hatte zwar der Abbieger durch sein Verhalten geschaffen; aber der nachfolgende Autofahrer hätte nicht mehr mit einem ungefährdeten Überholen rechnen dürfen. Ob das Verhalten des Abbiegers auf Unklarheit auf ein unaufmerksames, unsicheres, fehlerhaftes oder verkehrswidriges Verhalten zurückzuführen war, trat dabei in den Hintergrund.
Für das Gericht war ausschlaggebend, dass bei unklarer Verkehrslage sind alle Umstände relevant sind, die ein aufmerksamer Kraftfahrer erkennen kann. Es kommt darauf an, wie sich die Verkehrssituation für ihn darstellt (vgl. z. B. OLG Saarbrücken, Urt. v. 07.01.20223, Az. 3 U 358/02).
In dem zu entscheidenden Sachverhalt hätte der überholende Fahrer das unsichere Verhaltens des Abbiegers und die örtlichen Gegebenheiten (relativ schmale Fahrbahn ohne Mittelmarkierung) erkennen können und deshalb nicht mit einem gefahrlosen Überholen rechnen dürfen.
Hinzu kam, dass es sich bei dem Linksausscheren zwar um ein „unzulässiges, aber gleichwohl weit verbreitetes Phänomen, vor dem Rechtsabbiegen in Einfahrten nach links“ handelt. Aber unabhängig davon wäre ja auch ein falsches Blinken nach rechts bei beabsichtigtem Abbiegen nach links möglich gewesen.
Ob und in welchem Maße der überholende Autofahrer einen ausreichenden Seitenabstand eingehalten hatte (§ 5 Abs. 4 StVO), war für das Gericht unbeachtlich.
Der Anscheinsbeweis hatte zwar zunächst gegen den Abbiegenden gesprochen. Entscheidend dafür, dass der nachfolgende Autofahrer sich den größeren Verschuldensanteil zurechnen lassen musste war aber, dass er in der konkreten Situation nicht hätte überholen dürfen.
Die Entscheidung zeigt: Der Anscheinsbeweis kann einen ersten Hinweis geben. Entscheidend ist aber die Auswertung aller Umstände des Einzelfalls.
So hatte das OLG Schleswig in einem anderen Sachverhalt z.B. entschieden, dass der nachfolgende Verkehr stets damit rechnen, dass ein nach links blinkender Traktor kurzfristig abbiegt, und zwar auch ohne vorheriges Einordnen nach links (OLG Schleswig, Urt. v. 26.07.2023, Az. 7 U 42/23) .
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