Landgericht Lübeck, Urteil vom 19.07.2023, Az. 9 O 113/21
Das Landgericht Lübeck hat diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantwortet.
Verkehrsteilnehmer müssen sich so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird (§ 1 Abs. 2 StVO). Dies gilt auch für das Rückwärtsfahren. Beim Zurücksetzen muss nicht nur eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein, sondern der Fahrzeugführer hat sich gegebenenfalls auch einweisen lassen (§ 9 Abs. 5 StVO). Außerdem hat er darauf zu achten, dass keine Personen oder Fahrzeuge von der Seite oder von hinten in den sogenannten Gefahrenraum gelangen.
Da dies aber – insbesondere auf Parkplätzen – nicht ausgeschlossen werden kann, muss der Verkehrsraum neben und hinter dem Fahrzeug eben ausreichend beobachtet und im Auge behalten werden. Hinzu kommt, dass – angesichts der sich ständig wechselnden Verkehrssituationen – auf einem Parkplatz ohnehin nur mit stetiger Bremsbereitschaft und Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf (OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.03.2017, Az. I-1 U 97/16; v. 15.09.2015, Az. I-1 U 265/14).
Manche Rückfahrkameras bilden zwar eine Aufsicht und damit eine Art Rundumsicht ab. Ein wirklich großzügiger Überblick über die Fahrzeugumgebung, wie er für ein gefahrloses Rückwärtsfahren notwendig ist, ist damit aber nicht verbunden. Selbst die „Vogelperspektive“ kann den aufmerksamen Blick schon deshalb nicht ersetzen, weil bei dieser Einstellung nach hinten quasi blind gefahren wird. Eine ausreichende Sicht über das Heck hinaus oder zu den Seiten ist dabei nicht gewährleistet.
Das Landgericht Lübeck hat dies in seinem Urteil auf den Punkt gebracht, wie folgt: „Hilfsmittel wie Rückfahrkameras sind nützlich, eignen sich aber meistens nur dazu, das Parken zu erleichtern und die Stoßstange zu schonen. Einen großzügigen Überblick auf die rückseitige Fahrbahn, der für ein gefahrloses Rückwärtsfahren notwendig ist, liefern die Rückfahrkameras nicht. Daher sind diese Hilfsmittel als ergänzende Unterstützung heranzuziehen. Ein Verlass ausschließlich auf diese ist aber nicht ausreichend“.
Wer auf einem Parkplatz zurücksetzt, muss sich umsehen und sowohl die rückwärtige als auch die seitliche Umgebung im Blick haben. Der Blick auf den Bildschirm der Rückfahrkamera kann dieses Erfordernis nicht erfüllen. Kommt es beim Zurücksetzen zu einem Unfall, weil z.B. ein anderer Verkehrsteilnehmer unachtsam gewesen und plötzlich unvermittelt hinter dem Fahrzeug erschienen ist, haftet der Rückwärtsfahrende zwar nicht zu einhundert Prozent.
Einen Sorgfaltsverstoß nach § 1 Abs. 2 StVO wird er sich dennoch zurechnen lassen müssen, wenn er nachweislich auf einem Parkplatz rückwärts aus einer Parkbucht gefahren ist und sich nicht so verhalten hat, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (z.B. LG Heidelberg, Urt. v. 20.02.2014, Az. 3 O 93/14; AG Stuttgart-Bad-Cannstatt, Urt. v. 25.11.2005, Az. 8 C 2254/05). Hinzu kommt, dass Rückwärtsfahrende sich selber umsehen und sich nicht auf die Rückfahrkamera beschränken dürfen.
Sollten Sie in einem Parkplatz- oder einen anderen Unfall mit unklarer Haftungslage verwickelt worden sein, sprechen Sie mit uns.
Voigt regelt.
Ist Zurücksetzen ohne Hilfe grob fahrlässig?
Die Frage dürfte weniger das Zurücksetzen von PKWs, sondern vielmehr Lastkraftwagen, Wohnmobile, Wohnwagen- und vergleichbare Gespanne betreffen. Im Zweifel muss eben eine weitere Person hinzugezogen werden, um den rückwärtigen Raum zu überwachen.
In einem Urteil vom 14.11.2023 (Az. 9 O 13/23) hat es das Landgericht Lübeck auf den Punkte gebracht wie folgt: “Für das Nur ein vom Fahrer aus sichtbarer oder mindestens von einer Hilfsperson beobachteter und dem Fahrer mitgeteilter, also mit Gewissheit freier Raum, darf rückwärts befahren werden.”
Dienstvorschriften, die der Vermeidung von Unfällen insbesondere wegen der mit dem Rückwärtsfahren verbundenen erhöhten Gefahren dienen, sind dabei besonders sorgfältig beachtet werden müssen (VG Würzburg, Urt. v. 23.08.2022, Az. W 1 K22.584; VG Minden, Urt. v. 06.08.2014, Az. 10 K 103/13; München Urt. v. 14.4.2014, Az. M 21 K 12.4452). Die Nichtbeachtung derartiger Sicherheitsregeln stuft die Rechtsprechung regelmäßig als grob fahrlässig ein.
Aber auch das VG Würzburg wertet nicht jeden Fall eines rechtswidrigen fahrlässigen Rückwärtsfahrens auch als grob fahrlässige Verhaltensweise. Entscheidend ist die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles.