Nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall darf der Geschädigte auf Kosten des Schädigers einen Sachverständigen seiner Wahl mit der Schadenschätzung beauftragen. Das gilt jedoch nicht bei sogenannten Bagatellschäden in einem Bereich unterhalb von 750,00 Euro. Bei Bagatellschäden reicht aus Kostengründen in der Regel die Vorlage eines Kostenvoranschlags mit Lichtbildern.
Ist das Gutachten zur Ermittlung des Schadens erforderlich, zählen dessen Kosten zu den nach § 249 Abs. 1 BGB zu ersetzenden Vermögensschäden und sind zu erstatten (z.B. BGH, Urt. v. 30.11.2004, Az. VI ZR 365/03). Dies gilt auch für Kosten die anfallen, weil der Gutachter die (Teil-)zerlegung des Fahrzeugs zur Ermittlung des Schadenumfangs für erforderlich hält (AG Tettnang, Urt. v. 20.05.2021, Az. 3 C 639/20).
Der Geschädigte hat zwar die Erforderlichkeit des Herstellungsaufwandes nachzuweisen. Hierfür genügt aber regelmäßig die Vorlage der – von ihm beglichenen – Rechnung des mit der Begutachtung seines Fahrzeugs beauftragten Sachverständigen (vgl. AG Potsdam, Urt. v. 06.02.2020, Az. 24 C 155/19, m.w.N.).
Wenn ein Geschädigter vor der Reparatur ein Gutachten eingeholt und die „Reparatur gemäß Gutachten“ in Auftrag gegeben hat, hat der Schädiger ihm daher grundsätzlich alle Rechnungspositionen, die in dem Gutachten aufgeführt sind, zu erstatten. Zudem darf ein Geschädigter, der sich sachverständig beraten lässt, er auf die Richtigkeit des Gutachtens, mithin auf die Erforderlichkeit aller Rechnungspositionen vertrauen. (vgl. OLG Celle, URt. v. 13.09.2023, Az. 14 U 19/23; AG Büdingen, Urt. v. 24.02.2023, Az. 2 C 301/22; AG Münster, Urt. v. 19.06.2020, Az. 55 C 1190/20).
In einem weiteren Urteil hat das Münster dies transparent auf den Punkt gebracht: „Die Klägerseite kommt ihrer Darlegungslast bereits dadurch nach, dass sie vor Beauftragung der Werkstatt einen Sachverständigen mit der Ermittlung der erforderlichen Reparaturkosten beauftragt und anschließend die Reparatur nach Maßgabe des Sachverständigengutachtens veranlasst hat. Die Indizwirkung, dass die Klägerseite die in Rechnung gestellten Reparaturkosten aus ihrer subjektiven Sicht auch für erforderlich halten durfte, ergibt sich regelmäßig bereits daraus, dass die abgerechneten Reparaturkosten im von ihr eingeholten Gutachten ebenfalls als notwendiger Reparaturaufwand vorgesehen waren“ (AG Münster, Urt. v. 11.09.2020, Az. 28 C 1823/20; s.a. AG Mülheim/Ruhr, Urt. v. 02.03.2022, Az. 27 C 864/21).
Dementsprechend darf sich auch eine Werkstatt auf das Gutachten verlassen. Liegt ein Schadensgutachten vor, muss sie den Geschädigten (ihren Kunden) weder weitergehend beraten noch ist sie zu eigenen Prüfungen verpflichtet (AG Kronach, Urt. v. 05.03.2020, Az. 2 C 10/20).
Das Gutachten ist auch für die Geltendmachung des Nutzungsausfalls von Bedeutung. So hat z.B. das OLG München, einem Geschädigten einen Teil des Nutzungsausfalls mit der Begründung verweigert, dass insoweit ein Gutachten eingeholt worden sei (Urt. v. 10.05.2019, Az. 10 U 3765/18).
Welches Gutachten ist richtig?
Versicherer wenden gerne ein, das vom Geschädigten in Auftrag gegeben Gutachten sei unzutreffend. Um dies zu untermauern, legen sie entweder sogenannte Prüfberichte oder eigene Gutachten vor. Das LG Coburg hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auch ein vom Versicherer eingeholtes Gutachten nicht die alleinige Richtigkeit für sich beanspruchen kann und ist einem Sachverständigen ein gewisser Spielraum zugestanden werden muss. Maßgeblich sei allein, ob die Bewertungen „auf der Grundlage zutreffender Tatsachen und Methoden vorgenommen wurden“ (LG Coburg, Urt. v. 28.05.2021, Az. 33 S 49/20).
Entscheidend ist, dass das Gutachten für den Haftpflichtversicherer eine korrekte Schadens- oder Wertermittlung erkennen lässt, auf deren Grundlage er die Berechnung des Schadens vornehmen kann (BGH, Urt. v. 13.10.2009, Az. VI ZR 318/08). Grundsätzlich gilt aber, dass Geschädigte sich auch dann auf das von ihnen eingeholte Gutachten verlassen dürfen, wenn der gegnerische Versicherer ein Gegengutachten vorlegt (vgl. AG Wesel, Urt. v. 27.07.2022, Az. 5 C 17/22).
Die Kosten eines Ergänzungsgutachtens sind zu ersetzen
Macht der Haftpflichtversicherer des Schädigers bereits vorgerichtlich technische Einwendungen gegen das vom Geschädigten eingeholte Schadensgutachten geltend, deren Berechtigung der Geschädigte aufgrund fehlender Sachkenntnis nicht abschließend beurteilen kann, darf er grundsätzlich die Einholung eines Ergänzungsgutachtens seines Sachverständigen zur Auseinandersetzung mit den erhobenen Einwendungen für sachdienlich halten.
Wie das LG Aachen in einem Urteil vom 21.10.2021, Az. 4 O 63/21 ausführte, ist „das berechtigte Vertrauen des Geschädigten in die Richtigkeit der Schadensfeststellungen seines Sachverständigen …. nämlich aufgrund der entgegenstehenden technischen Einwendungen des Schädigers oder dessen Haftpflichtversicherers so weit erschüttert, dass es dem Geschädigten – auch aus Gründen der Waffengleichheit – nicht zuzumuten ist, auf dieser Grundlage seinen Schaden geltend zu machen. Um sachgerecht vortragen zu können und den erlittenen Schaden verbindlich zu beziffern und ggf. durchzusetzen, darf der Geschädigte demnach unter diesen Umständen eine weitere Beauftragung seines Sachverständigen für erforderlich und zweckmäßig erachten. Dies gilt auch, weil der Geschädigte in einer solchen Situation davon ausgehen darf, mit Hilfe einer ergänzenden Stellungnahme seines Sachverständigen zur (technischen) Klärung des Sachverhalts bereits im Vorfeld eines Prozesses beitragen und so – auch im Sinne einer wirtschaftlich sinnvollen Vorgehensweise – auf eine nicht streitige Erledigung hinwirken zu können.“
Die Werkstatt darf sich auf das vorgelegte Gutachten verlassen!
Das AG Stade hat in einem Urteil vom 04.06.2021 (Az. 61 C 127/21) festgestellt, dass eine Werkstatt keine schuldhafte Pflichtverletzung begeht, wenn „der Besteller anhand des Sachverständigengutachtens genaue konkrete Vorgaben hinsichtlich der einzelnen Schritte zur notwendigen Instandsetzung vorgibt und sie sich genau an diese Schritte hält.“
Insbesondere darf sich eine Werkstatt auf die Angaben im Gutachten verlassen und ist nicht dazu verpflichtet, jede einzelne Position in Hinblick auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Hier gilt, dass die Notwendigkeit und Angemessenheit der Arbeiten durch das Sachverständigengutachten vorgegeben sind.
Die Werkstatt darf nicht selbst Ersteller des Gutachtens sein
Der Geschädigte hat keinen Anspruch auf Ersatz der Gutachterkosten, wenn ihn ein Auswahlverschulden trifft (KG Urt. v. 01.03.2004 – 12 U 96/03; OLG Hamm Urt. v. 08.05.2001 – 27 U 201/00. Der Rechtsprechung zufolge ist ein derartiges Verschulden anzunehmen, wenn der Gutachtenersteller ein eigenes Interesse an der Durchführung der Reparatur hat (vgl. AG Hanau, Urt. v. 18.10.2023, Az. 39 C 30/23 (19), w.m.N.).
Dies ist z.B. bei einem Arbeitnehmer des an der Reparatur interessierten Betriebes, insbesondere aber auch bei dessen Geschäftsführer anzunehmen, wenn dieser als Sachverständiger mit der Erstellung des Gutachtens beauftragt wird (LG Coburg, Urt. v. 10.05.2023, Az. 32 S 148/22; LG Freiburg Urt. v. 20.06. 2013, Az. 3 S 64/12; v. 25.10.2011, Az. 9 S 21/11; AG St. Wendel Urt. v. 14.05.1997, Az. 14 C 1293/96).
Einem Urteil des AG Mülheim an der Ruhr zufolge (Az. 19 C 1513/20 v. 07.06.2021), gilt dies insbesondere unter dem Aspekt, dass “die Einholung eines vor der Reparatur eingeholten Sachverständigengutachtens […] insoweit die Kontrolle der von der Reparaturwerkstatt abgerechneten Kosten durch den Schädiger und den Geschädigten sowie der Überzeugung des Haftpflichtversicherers von deren Erforderlichkeit [bezweckt] (vgl. LG Freiburg, Urt. v. 20.06.2013; 3 S 64/12; AG Nürnberg, Urt. v. 31.08.2006, Az. 31 C 3391/06).
Muss das Gutachten vorliegen, wenn die Reparatur in Auftrag gegeben wird?
Der Rechtsprechung zufolge ist es unschädlich, wenn ein Geschädigter den Reparaturauftrag zur Instandsetzung nach bereits vor der Besichtigung durch Gutachter erteilt und die Reparatur später auf Basis des Gutachtens erfolgt (vgl. AG Zeven, Urteil vom 07.04.2021, Az. 3 C 29/21).
Auch für das AG Stuttgart macht es „im Ergebnis keinen Unterschied …, ob der Geschädigte erst ein Sachverständigengutachten erstellen lässt und dann eine Werkstatt zur Reparatur auf Basis des Gutachtens anweist oder zunächst eine Werkstatt grundsätzlich mit der Reparatur beauftragt und aber erst mit Vorlage des Gutachtens die Reparaturfreigabe aufgrund des Gutachtens erteilt“ (AG Stuttgart, Urt. v.16.10.2020, Az. 44 C 607/20).
Wie das AG Bremerhaven in einem Urteil vom 08.12.2021, Az. 52 C 703/21 nachvollziehbar ausgeführt hat, „dient ein solches Gutachten
auch zur Dokumentation, bspw. von Vor-/ Altschäden. Im Verkehrsunfallprozess wird die Unfallfreiheit des geschädigten Fahrzeugs durch die Schädigerseite häufig in Abrede gestellt, weshalb die Einholung eines Gutachtens die Darlegung erleichtern kann. Auf der anderen Seite zeitigt ein Gutachten auch eine gewisse lndizwirkung für eine durchzuführende Reparatur. Stimmen Reparaturablauf und Gutachten überein, spricht dies – gerade vor dem Hintergrund des Werkstatt- und Prognoserisikos – für die Erforderlichkeit der angefallenen Kosten.“
Hinzu kommt, dass der im Gutachten ausgewiesene Betrag und die Reparaturrechnung wohl nur in den seltensten Fällen auf den Cent genau übereinstimmen werden. Wurde die Reparatur gemäß den Vorgaben im Sachverständigengutachten durchgeführt, kann trifft einen Geschädigten selbst dann kein Verschulden, wenn der spätere Rechnungsbetrag die gutachterlich prognostizierten Instandsetzungskosten um 15% überschreitet (vgl. BGH, Urt. v. 26.04.2022, Az. VI ZR 147/21). Allerdings wird in der Rechtsprechung auch die Auffassung vertreten, dass die Kosten der Reparatur dem im Sachverständigengutachten ausgewiesenen Betrag entsprechen müssen (z.B. AG Lindau, Urt. Urt. v. 04.07.2022, Az. 1 C 36/22)
Wer bezahlt das Gutachten?
Die Kosten für die Erstellung des Sachverständigengutachtens hat der entschädigungspflichtige Versicherer zu erstatten. Dies gilt selbst dann, wenn sich das Gutachten als falsch erweist. Dies gilt nicht, wenn der wenn der Geschädigte schuldhaft falsche Angaben gegenüber dem Sachverständigen gemacht hat und sich (das Gutachten deshalb als unbrauchbar erweist. (z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 16.02.2023, Az. 2 U 226/21). Ein Klassiker ist der nicht berücksichtigte Vorschaden. Sieh hierzu: Gutachten müssen vollständig und brauchbar sein! (OLG Saarbrücken, Urt. v. 03.05.2024, Az. 3 ZU 13/32).
Einsichtsrecht im Kaskoschadenfall
Ein Kaskoversicherer kann dazu verpflichtet sein, seinem Versicherungsnehmer Einsicht in ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten zu gewähren (z.B. OLG Frankfurt, Urt. v. 13.09.2023, az. 7 U 40/22). Diese vertragliche Nebenpflicht, die aus Treu und Glauben folgt, findet ihre Grenzen aber dort, wo überwiegende schutzwürdige Interessen des Versicherers berührt sind (OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.04.2020, Az. 5 U 55/19).
Übrigens
Der Vertrag mit dem Schadengutachter ist ein sogenannter Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, d.h. zugunsten des Versicherers BGH, Urt. v. 13.01.2009, Az. VI ZR 205/08), der deshalb ein eigenes Recht zur Klage hat.
Die Leistung des Sachverständigen ist höchstpersönlich zu erbringen. Dies gilt insbesondere für die Inaugenscheinnahme eines beschädigten Fahrzeugs und des Schadens. Bei sogenannten “Ferngutachten” erfolgt dies nicht. Bei einer “Inaugenscheinnahme” aus der Ferne (z.B. per Livestream) bei der eine detaillierte Betrachtung des Schadens schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, sollte daher nicht von einem Gutachten, sondern bestenfalls von einer “Fernkalkulation” gesprochen werden.