Die Grundregel lautet: Wer ausschert muss aufmerksam sein. Geregelt ist das in § 9 StVO. Danach muss, wer aus einer Kolonne ausschert, egal an welcher Position er sich befindet, den nachfolgenden Verkehr beachten. Dies gilt sowohl vor dem Einordnen als auch ggf. nochmals vor dem Abbiegen. Ausgenommen sind lediglich Situationen, in denen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO).
Für denjenigen, der sich am Anfang der Kolonne befindet, ist die Sache damit klar. Was gilt aber für denjenigen der sich weiter hinten befunden hat und – natürlich nachdem er unter Beachtung der Grundsätze des § 9 StVO bereits ausgeschert ist – die Kolonne überholt?
Zunächst gilt: Auch wer sich weiter hinten in einer Kolonne befindet darf überholen. Und wenn er überholt muss er nicht damit rechnen, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert. Treten aber besondere Umstände hinzu, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprechen oder eine unklare Verkehrslage schaffen, kann etwas Anderes gelten (OLG Celle, Urt. v. 08.06.2022, Az. 14 U 118/21 unter Bezugnahme auf OLG Koblenz, Urt. v. 10.02.2020, Az. 12 U 1134/19, Rn. 29; OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.09.2018, Az. 1 U 155/17; OLG München, Urt. v. 24.02.2017, Az. 10 U 4448/16).
Beim Überholen ist eine unklare Verkehrslage insbesondere dann anzunehmen, wenn nicht mit einem ungefährlichen Überholvorgang zu rechnen ist. Entscheidende Paramater können z.B. die Örtlichkeit oder das unsichere oder ungewisse Verhalten vorausfahrender Verkehrsteilnehmer sein. Zudem darf nur derjenige zum Überholen ansetzen, der den Überholvorgang über die gesamte Dauer überschauen kann.
Wer ordnungsgemäß zum Überholen angesetzt hat, hat – zumindest vom Grundsatz her – Vorrang gegenüber den in der Kolonne befindlichen Fahrzeugen. Er darauf also vertrauen, dass vorausfahrende Fahrzeugführer sich verkehrsgerecht verhalten. Insbesondere muss er nicht damit rechnen, dass diese vorschriftswidrig nach links ausscheren oder abbiegen.
Wer also hinten ausgeschert ist, um an der Fahrzeugkolonne vorbeizuziehen, darf dies grundsätzlich auch tun. Denn der Versuch, mehrere vorausfahrende Personenkraftwagen zu überholen, ist nicht per se bereits eine besonders gefahrenträchtige Fahrweise (vgl. BGH, Urt. v. 23.08.1986, Az. VI ZR 46/85).
Hinzu kommt, dass keine generelle Pflicht besteht, Fahrzeugen die sich in der Kolonne weiter vorne befinden, Vorrang einzuräumen. Allerdings dürfen überholende Fahrzeugführer dennoch nicht ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen.
Wer erkennt, dass ein vorausfahrender Fahrzeugführer zum Überholen oder zum Abbiegen ausscheren will, muss diesem im Zweifel den Vorrang einräumen. Entscheidend sind aber auch hier die Umstände des Einzelfalls, wie ein Urteil des OLG Hamm vom 23.02.2006 (Az. 6 U 126/05) zeigt.
Wörtlich heißt es dort:
„Zwar wird in der Rechtsprechung teilweise angenommen, dass der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers spricht, wenn er im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen mit einem links überholenden Fahrzeug kollidiert (vgl. KG NZV 03, 89 = MDR 03, 507).“
“In dieser Allgemeinheit kann dieser Satz aber jedenfalls nicht gelten, wenn zuvor – wie hier – der Überholer dem Linksabbieger nicht unmittelbar gefolgt war, sondern eine kleine Kolonne überholt und dann mit dem abbiegenden Spitzenfahrzeug zusammenstößt. Denn bevor ein Rückgriff auf Erfahrungssätze im Rahmen eines Anscheinsbeweises in Betracht gezogen werden kann, muss zunächst einmal festgestellt werden, dass im konkreten Fall tatsächlich ein “typischer Geschehensablauf” vorliegt.
Diesen muss derjenige nachweisen, der sich auf den Anscheinsbeweis berufen will; alle zum Gegenbeweis angebotenen Beweismittel sind auszuschöpfen. Erst wenn die “konkrete Typizität” feststeht, kann der exakte Nachweis des Unfallhergangs durch die Anwendung von Erfahrungssätzen ersetzt.
An der “konkreten Typizität” fehlt es aber bei einer Verkehrssituation, wie sie hier vorlag. Die Erläuterungen der zeitwegmäßigen Zusammenhänge durch den Sachverständigen machen vielmehr deutlich, dass es durchaus typisch sein kann, dass der Führer des abbiegenden Spitzenfahrzeugs einer kurzen Kolonne beim Abbiegeentschluss das bevorstehende Überholmanöver eines nachfolgenden Fahrzeugs noch nicht erkennen kann, wenn dessen Führer sich anschickt, die Kolonne in einem Zuge zu überholen. Denn dann kann das Blinkzeichen, mit dem das Überholen angekündigt wird, für den Linksabbieger das durch ihm unmittelbar folgende Fahrzeug verdeckt sein, und der Fahrstreifenwechsel muss noch nicht so weit fortgeschritten sein, dass er für den Linksabbieger bei der zweiten Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen erkennbar ist.“
Das Überholen von Kolonnen kann anspruchsvoll sein. Dies gilt sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht. Wer von einem der hinteren Plätze ausschert, um die vor ihm fahrende Kolonne zu überholen, muss aber wissen, dass ihm weder eine Schrecksekunde zusteht noch die höchstzulässige Geschwindigkeit beim Überholen überschritten werden darf.
Wenn eine anfangs übersichtliche Situation kritisch geworden und der Abbruch des Überholvorgangs gefährlicher ist als dessen Fortsetzung, können zudem auch starke Nerven erforderlich werden. Besonders anspruchsvoll kann es nach einem Unfall werden.
Denn selbst wenn keine Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung vorgelegen haben sollten, hätte jeder der am Unfall beteiligten Fahrer mit dem Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen müssen. Bei der Abwägung der Verschuldensanteile kommt hinzu, dass sich allein das Überholen einer Kolonne oftmals gefahrerhöhend auswirkt. Darauf, ob der Überholvorgang als solcher bereits zu einer Gefahrerhöhung führt, kann, muss es aber nicht ankommen.
Sehr wohl kommt es aber darauf an, bei der Vertretung gegenüber dem Versicherer des Unfallgegners oder im Prozess einen fachkundigen Anwalt an seiner Seite zu haben.
Sprechen sie mit uns! Wir regeln das für Sie!