Das OLG München hatte sich am 01.06.2022 mit der Frage zu befassen, ob die Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h eine Mithaftung des Unfallgeschädigten begründen kann.
Was war passiert?
Die Fahrzeuge der Unfallbeteiligten waren im August 2019 auf einer Autobahn miteinander kollidiert. Zum Unfall war es gekommen, als der Beklagte den Fahrtstreifen wechselte und der Kläger, der deutlich schneller als 130 km/h fuhr, mit seinem Fahrzeug von hinten auffuhr.
Wo lag das rechtliche Problem?
Das LG München I war von einer Haftungsverteilung von 100:0 zu Lasten des Beklagten ausgegangen Endurteil v. 30.09.2021, Az. 19 O 6974/20). Seiner Ansicht nach treffe einen Spurwechsler – bei einem Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 7 V StVO – im Regelfall eine Alleinhaftung. Begründet wird dies damit, dass die einfache Betriebsgefahr des anderen Kraftfahrzeugs hinter das Verschulden des Spurwechslers zurücktritt (vgl. BGH Urt. v. 11. 2. 2014 – VI ZR 161/13, NJW 2014, 1181; OLG Köln, Urt. v. 10.11.2016, Az. 7 U 91/16). Ein schuldhafter Verstoß gegen Sorgfaltspflichten konnte dem Kläger nicht angelastet werden. Auch ein Verstoß gegen § 3 III StVO kam nicht in Betracht, da an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt die Höchstgeschwindigkeit nicht beschränkt war. Das OLG München hatte daher zu klären, ob ein Mitverschulden aus anderen Gründen gegeben sein könnte.
Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit erhöht die Betriebsgefahr!
Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine deutliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit einen schuldlos an einem Verkehrsunfall Beteiligten belastet (z.B. BGH, Urt. v. 17.03.1992, Az. VI ZR 62/91; OLG Hamm, Urt. v. 10.01.2000, Az. 6 U 191/99). Dies war hier der Fall.
Den Ausführungen des OLG zufolge, tritt die Betriebsgefahr im Einzelfall zwar hinter einem groben Verschulden des Unfallverursachers zurück. Eine eklatante Überschreitung der Richtgeschwindigkeit – hier ca. 70 km/h – ist jedoch betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen.
Zur Begründung greift das OLG München auf eine Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 21.11.2017, Az. I-1 U 44/17 zurück. Dort heißt es in den Urteilsgründen:
„Denn wer schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt (BGH, Urteil vom 17.03.1992 – VI ZR 62/91). Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich schnell nähernden Fahrzeugs, zumal wenn es von hinten herankommt, nicht richtig einzuschätzen und sich hierauf bei einem Wechsel der Fahrstreifen nicht einzustellen vermögen). Denn auch wenn die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nach der Autobahn-Richtigkeitsgeschwindigkeits-Verordnung keinen Schuldvorwurf begründet, bedeutet das Fehlen unmittelbarer Sanktionen nicht die rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Neben dem Umstand, dass regelmäßig ein oberhalb der Richtgeschwindigkeit fahrender Kraftfahrer den Unabwendbarkeitsnachweis für den Unfall …nicht führen kann, wirkt sich eine hohe Ausgangsgeschwindigkeit auch dahingehend aus, dass sie bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nicht außer Ansatz bleiben kann“.
Die eigentliche Ursache für den Unfall hatte zwar der Fahrer des Wohnmobils mit seinem Spurwechsel gesetzt. Allerdings war der gerichtliche Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kollision vermeidbar gewesen wäre, wenn der Beklagte die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h, eingehalten hätte. Für das Gericht stand damit fest, dass sich die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf den Unfall ausgewirkt hatte und der Kläger den Unfall bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit auch hätte vermeiden können. Am Ende stand eine Haftungsverteilung von 75 % zu Lasten des Beklagten und zu 25 % zu Lasten des Geschädigten.