Ob durch Planenschlitzer oder gleich ganze entwendete Anhänger: Wenn teures Frachtgut entwendet wird, steht oftmals die Frage im Raum, ob der Frachtführer seine Pflichten erfüllt hat oder nicht. Danach bemisst sich, ob er von dem Privileg der Haftungsbefreiung oder -begrenzung profitiert oder sein Verhalten soweit zur Schadensentstehung beigetragen hat, dass er sich auf dieses Privileg nicht berufen kann. Mit dem möglichen Wegfall der Haftungsbeschränkung musste sich auch der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 23.07.2020 (Az.: I ZR 119/19) befassen.
Was war passiert?
Ein Speditionsunternehmen sollte für eine Kundin, zu der eine ständige Geschäftsbeziehung bestand, edelmetallbeschichtete Bauteile für Katalysatoren transportieren. Dem Anforderungsprofils der Kundin nach war unter anderem vereinbart: Werden beladene Fahrzeuge geparkt, so sind sie zu überwachen oder dort abzustellen, wo ausreichende Sicherheit gewährleistet ist. Mit Gefahrgut beladene Fahrzeuge dürfen in reinen Wohngebieten nicht abgestellt werden.
Im November 2016 stellte der Fahrer den beladenen Planen-Sattelauflieger gegen 20 Uhr ohne Königszapfen-Sicherung in einem Gewerbegebiet ab, um seine vorgeschriebenen Lenkzeiten einzuhalten. Allerdings verblieb er nicht beim Anhänger, sondern fuhr mitsamt der Zugmaschine nach Hause. Am nächsten Morgen wollte er den Anhänger gegen 5:30 Uhr abholen – und stellte fest, dass dieser verschwunden war.
Der Transportversicherer der Kundin regulierte den Schaden und verklagte daraufhin das Speditionsunternehmen auf Ersatz von knapp 1,1 Millionen Euro. Das zunächst angerufene Landgericht (LG) Verden sah den Anspruch als grundsätzlich gegeben. Dass die Kundin als Absenderin nicht auf den hohen Wert der Ladung hingewiesen habe, sei nicht von Bedeutung. Das Speditionsunternehmen gab sich nicht geschlagen.
Das in der Berufungsinstanz angerufene Oberlandesgericht (OLG) Celle teilte grundsätzlich diese Auffassung und wies die Berufung des Speditionsunternehmens zurück. Das Speditionsunternehmen hafte als Fixkostenspediteurin verschuldensunabhängig für das Abhandenkommen des ihr von der Absenderin anvertrauten Frachtguts. Ihre Haftung sei nicht auf den Höchstbetrag gemäß § 431 Abs. 1 HGB in Höhe von 113.878,08 € beschränkt, weil der eingetretene Schaden auf eine leichtfertig und in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde, begangene Unterlassung zurückzuführen sei.
Das Speditionsunternehmen zog daraufhin vor den BGH.
Die Entscheidung des Gerichts
Der BGH sah die Angelegenheit differenzierter. Grundsätzlich stünde dem Versicherer ein Schadensersatzanspruch gemäß § 425 Absatz 1 Handelsgesetzbuch (HGB) zu; zumal sich der Diebstahl in der Obhutszeit des Speditionsunternehmens ereignet hat und der Versicherer den Schaden gegenüber der Absenderin reguliert hat und damit auf den Versicherer übergegangen ist (§ 86 VVG).
Allerdings sah der BGH keine uneingeschränkte Haftung nach § 435 HGB. Das Gericht darf eine Klage nicht schon dann einschränkungslos für dem Grunde nach gerechtfertigt erklären, wenn und weil dem Kläger ein Anspruch in irgendeiner Höhe zusteht. Das Gericht muss im Rahmen eines Grundurteils vielmehr die Voraussetzungen einer Anspruchsgrundlage bejahen, die die Klageforderung der Höhe nach vollständig decken würde (
). Danach kann beim Erlass eines Grundurteils nicht offenbleiben, ob die Haftungsbegrenzungen einer Anspruchsgrundlage eingreifen, sofern die Klageforderung – wie im Streitfall – über den Haftungshöchstbetrag hinausgeht. Dementsprechend darf die Frage, ob ein qualifiziertes Verschulden gemäß § 435 HGB vorliegt, im Rahmen eines Grundurteils nicht offengelassen werden (
).
Grundsätzlich könne ein Verstoß gegen vertragliche Sicherheitsanweisungen zu einer uneingeschränkten Haftung führen. Ein vorsätzlicher Verstoß sei aber bislang von dem OLG nicht festgestellt worden. Das OLG hatte aus Sicht des BGH die vereinbarte Klausel nicht weit genug ausgelegt. Nach Auffassung des OLG war nämlich ein derart gesicherter Parkplatz aufzusuchen, wie er einer persönlichen Überwachung durch den Frachtführer gleichkäme.
Der BGH hingegen ging aufgrund der schwammigen Formulierung von der gesetzlichen Regelung aus. Durch die Klausel im Anforderungsprofil sei jedenfalls im Ergebnis keine über das gesetzliche Maß hin-ausgehenden Sorgfaltspflichten auferlegt
. Denn gemäß dem zweiten Teil der Vereinbarung sind beladene Fahrzeuge an Orten abzustellen, an denen ausreichende Sicherheit gewährleistet ist. Diese Anforderung ist so offen formuliert, dass sie auch in einer Weise verstanden werden kann, die nicht über das hinausgeht, was von einem Frachtführer schon von Gesetzes wegen verlangt wird. Danach sind an die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen umso höhere Anforderungen zu stellen, je größer die mit der Güterbeförderung verbundenen Risiken sind. Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob das transportierte Gut leicht verwertbar und damit besonders diebstahlsgefährdet ist, welchen Wert es hat, ob dem Frachtführer oder den in § 428 HGB genannten Personen auf Grund einer besonderen Gefahrenlage hätte bewusst sein müssen, dass es zu einem Diebstahl des Transportgutes kommen könnte, wenn das beladene Transportfahrzeug unbewacht abgestellt wird, und welche konkreten Möglichkeiten einer gesicherten Fahrtunterbrechung es gibt, um vorgeschriebene Pausen einzuhalten
.
Der BGH konnte daher auf Grundlage der vom OLG getroffenen Feststellungen nicht eindeutig beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine uneingeschränkte Haftung vorlagen oder nicht. Insbesondere fehlten neben den Feststellungen zum Vorsatz auch beispielsweise Feststellungen zu einer leichtfertigen Handlung in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde.
Der BGH hob daher das Urteil des OLGs auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das OLG Celle mit der Maßgabe, dass die Voraussetzungen der uneingeschränkten Haftung geprüft werden.
Kanzlei Voigt Praxistipp
Ob und unter welchen Bedingungen die Haftungsprivilegierung wegfällt, steht öfters im Streit. Dies gilt umso mehr, wenn individuelle Vereinbarungen, Anforderungsprofile oder allgemeine Geschäftsbedingungen Abreden enthalten, die nicht immer ganz eindeutig sind. Dann kommt es bei der Auslegung zum Streit.
Um Streitigkeiten vorzubeugen lohnt sich eine sorgfältige rechtliche Überprüfung der Vereinbarungen. Kommt es dann doch zum Streit, hilft ein erfahrener Rechtsbeistand. Die Rechtsanwälte der ETL Kanzlei Voigt stehen Ihnen gerne zur Seite.