OLG Schleswig, Urteil vom 08.10.2024, Az. 7 U 30/24
Die Besonderheit des Falles bestand aber darin, dass geklärt werden musste, ob die Aussage des Fahrers des vorausfahrenden Fahrzeugs stimmte, wonach er wegen einer Katze unerwartet bremsen musste oder ob er plötzlich und unerwartet rückwärts und ungebremst in das nachfolgende, angeblich seinerseits aufgefahrene Auto gefahren war.
Das Landgericht Kiel hatte den Unfallhergang als unaufklärbar gesehen und die Haftung – unter Abwägung der beiderseitigen Betriebsgefahr – zu jeweils zu 50 % auf die Parteien verteilt (LG Kiel, Az. 7 O 228/22 v. 13. 03.2024).
Das OLG Schleswig sah das aber anders und sprach dem Halter des vermeintlich aufgefahrenen Fahrzeugs weiteren Schadenersatz zu. Das Landgericht hatte zwar Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der als Zeugin vernommenen Beifahrerin geäußert, die die Ehefrau des Halters war. Zudem hatte es sich auf das eingeholte Sachverständigengutachten bezogen, demzufolge beide Unfalldarstellungen denkbar waren.
Um Klarheit zu schaffen, hatte das OLG Schleswig die Zeugin daher noch einmal zu angehört.
Auch hier galt, dass ein Gericht die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf, solange es dabei die Denkgesetze, die Naturgesetze und die Erfahrungsgesetze berücksichtigt. An die Erkenntnisse der Vorinstanz ist es dabei nicht gebunden. Ob und wie weit Verwandtschaftsverhältnisse die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder die Glaubhaftigkeit einer Aussage beeinträchtigen, muss das Gericht dann selber entscheiden.
Bereits in der ersten Instanz hatte die Zeugin folgendes ausgesagt:
„Wir hielten hinter einem Wagen (weißer Sprinter). Plötzlich sehe ich seine Rücklichter aufleuchten. Der fährt ja rückwärts, rief ich. Da krachte der Wagen schon in unseren Wagen rein.“
Der Senat hat die Aussagen der Zeugin für glaubhaft und die Zeugin für absolut glaubwürdig gehalten. Neben dem Auftritt der Zeugin war dabei entscheidend, dass die Aussagen nach dem Unfall und vor Gericht weder voneinander abwichen noch „aalglatt“ und nur zu Gunsten des Anspruchstellers ausgefallen waren.
Sowohl bei ihrer polizeilichen Anhörung direkt nach dem Unfall, als auch beim Landgericht und beim OLG hatte die Zeugin immer gesagt, der Sprinter sei plötzlich und ohne Vorwarnung rückwärts gefahren und habe damit den Schaden verursacht, nachdem er zunächst angehalten hatte.
Dadurch hätte ihr Fahrzeug mindestens eine Minute lang hinter dem Sprinter gestanden, und zwar in einem Abstand von ca. 3 Metern. Danach sei es beim Rückwärtsfahren zur Kollision gekommen. Der Senat des OLG Schleswig war davon überzeugt, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach.
Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Die Zeugin hat konzentriert und ruhig ausgesagt und machte auf den Senat einen seriösen Eindruck. Der Senat hat auch nicht vergessen, dass die Zeugin die Ehefrau des Klägers ist. Das heißt, sie hat ein ähnliches Interesse wie er. Man kann einer solche Zeugin also nicht von vornherein weniger Glauben schenken als einer Zeugin, die in keiner Beziehung zu den Parteien steht. Die Zeugin hat sich nicht einseitig belastet. Sie hätte zwar für den Kläger günstiger aussagen können, hat das aber nicht getan. Zum Beispiel hat sie gesagt, dass sie sich nicht mehr genau daran erinnern kann, ob der Rückfahrscheinwerfer beim Beklagtenfahrzeug noch an war, als die Fotos gemacht wurden.“
Das Urteil lässt gleich mehrere Rückschlüsse zu. Zunächst müssen Dinge nicht immer so sein, wie es zunächst den Anschein hat. Durch absichtliches Rückwärtsfahren verursachte „Auffahrunfälle“ gehören inzwischen zur Realität. Wenn es nach einem derartigen Unfall zum Prozess kommt, können sowohl Aufnahmen von Dash-Cams, aber eben auch glaubwürdige Zeugenaussagen, einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung des wirklichen Hergangs und zur Abwehr ungerechtfertigt geltend gemachter Ansprüchen leisten. Das Bestehen verwandtschaftlicher Verhältnisse steht dem nicht zwingend entgegen.
Mindestens genauso wichtig ist aber die Vertretung durch einen guten Anwalt. Denn wie das hier zugrundeliegende Verfahren zeigt, muss nicht jedes erstinstanzliche Urteil auch richtig sein.
Sollten Sie daher in einen Unfall verwickelt worden sein, kontaktieren Sie uns!
Titelbild: KI-generiert