LG Hamburg, Urteil vom 18.02.2022, Az. 306 O 471/20
Ein Funkstreifenwagen war innerstädtisch auf einer Einsatzfahrt mit Sonderrechten (Blaulicht und Martinshorn) unterwegs, als er mit dem Fahrzeug des Klägers kollidierte. Mitursächlich war, dass der Streifenwagen nicht die Fahrbahn, sondern die links davon vorhandene Sperrfläche benutzte. Auf diese war der Kläger aber mit seinem Fahrzeug gefahren, um rechts Platz zu schaffen.
Zu klären war daher, ob das Ausweichmanöver des Klägers rechtskonform war (Stichwort „Rettungsgasse“) oder ob es nicht sogar als Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO zu werten war. Denn obgleich der Kläger eine Rettungsgasse bilden wollte, hatte er genau das Gegenteil bewirkt und durch sein Ausscheren nach links ein plötzliches Hindernis für das Einsatzfahrzeug bereitet. Bei der Klärung der Frage kam es daher insbesondere darauf an, ob das Verhalten des Klägers dadurch gerechtfertigt war, dass er mit seinem Verhalten eine „Rettungsgasse“ bilden wollte, obgleich das Polizeifahrzeug bereits linksseitig an mehreren Fahrzeugen vorbeigefahren war.
Der Kläger war zwar verpflichtet, dem Einsatzfahrzeug „freie Bahn“ im Sinne von § 38 Abs. 1 S. 2 StVO zu schaffen. Die Bildung einer Rettungsgasse war hierfür aber nicht erforderlich. Ausschlaggebend dafür ist, dass § 11 Abs. 2 StVO die Bildung einer Rettungsgasse nur auf Autobahnen sowie auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung, nicht aber für den innerstädtischen Verkehr vorschreibt.
Das Gericht kam zu dem Schluss, „dass der Kläger zu dem Zeitpunkt seines Ausscherens nach links mit der gebotenen Sorgfalt ohne Weiteres hätte erkennen können und müssen, dass sich das Einsatzfahrzeug bereits linksseitig von ihm durch die Benutzung der schraffierten Sperrfläche angenähert hat. Er hätte daher auf gar keinen Fall nach links ausscheren dürfen.“
Mitentscheidend war, dass der herannahende Streifenwagen offensichtlich deutlich erkennbar gewesen war, der Kläger aber dennoch „durch sein Fahrmanöver in die vorhandene „Engstelle“ der Sperrfläche zwischen der Verkehrsinsel und dem linken Fahrstreifen und damit direkt in den Fahrweg des Funkstreifenwagens hineingefahren“ sei. Das Gericht hielt daher eine Haftungsverteilung im Maßstab 60% / 40% zu Lasten des Klägers für angemessen.
Das Urteil zeigt, dass es – selbst in vermeintlichen Standardsituationen – kein “Schema F“ gibt. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Diese sind im Zweifelsfall detailliert herauszuarbeiten, bevor sie einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden. Und auch wenn der Kläger in dem hier besprochenen Fall auf eine Erheblichen Teil seines Schadens sitzen geblieben ist, so hat der Prozess doch zumindest in einer Hinsicht für Klarheit gesorgt: Wenn Einsatzfahrzeugen in der Stadt Platz „freie Fahrt“ zu schaffen ist, so hängt die Art und Weise von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine Rettungsgasse ist dafür nicht zwingend erforderlich.