Landgericht Lübeck, Urteil vom 15.07.2024, Az. 10 O 277/23
Als sich das Landgericht Lübeck mit einem Auffahrunfall zu befassen hatte, bei dem ein Lkw auf ein vor ihm fahrendes Fahrzeug aufgefahren war, setzte es sich mit den Grundsätzen des Anscheinsbeweises zu Lasten des Lkw-Fahrers auseinander. Dabei stellte es fest: Der Anscheinsbeweis greift zwar grundsätzlich, er kann aber auch erschüttert werden.
Bei Auffahrunfällen spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer nicht an die Straßen- und Sichtverhältnisse angepassten Geschwindigkeit gefahren ist. Denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH, Urt. v 13.12.2011, Az. VI ZR 177/10; v. 16.01.2007, Az. VI ZR 248/05; OLG Düsseldorf vom 27.04.2021, Az. 1 U 32/19; LG Lübeck vom 26.02.2024, Az. 10 O 251/23).
Wenn ein LKW auf ein anderes Fahrzeug auffährt, und die Fahrzeuge sind in Fahrtrichtung an Front (LKW) und Heck (vorausfahrendes Fahrzeug) zusammengestoßen, rechtfertigt dies grundsätzlich einen Anscheinsbeweis zu Lasten des LKW-Fahrers wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO zur Anwendung zu bringen (LG Lübeck vom 26.2.2024, Az. 10 O 251/23; LG Lübeck vom 02.06.2022, Az. 14 S 106/20; LG Hamburg vom 14.11.2022, Az. 331 S 14/22).
Allerdings kann bei einem Auffahrunfall auf einer Autobahn grundsätzlich ein nennenswert zum Unfallgeschehen beitragendes Verhalten des vorausfahrenden Fahrzeugs zu einer Mithaftung des vorausfahrenden Fahrzeugs führen. Dies wurde bspw. für ein vorausfahrendes Fahrzeug entschieden, das nach einem Überholvorgang mit nachfolgendem Spurwechsel und vor dem auffahrenden Fahrzeug abbremst (BGH vom 24.4.1957, Az. VI ZR 90/56, Quote Vorausfahrender: 75 %), für ein vorausfahrendes Fahrzeug das aufgrund eines Unfalls auf der Nachbarspur von einer Geschwindigkeit 80 km/h auf 5 km/h abbremst (OLG Celle vom 28.3.1966, Az. 5 U 111/65, Quote: 25 %) oder für ein vorausfahrendes Fahrzeug, das aufgrund einer Fehlfunktion des Bremsassistenten stak abbremst, und einem mit einem Sicherheitsabstand von 35 m nachfolgenden Lkw (OLG Frankfurt vom 9.3.2021, Az. 23 U 120/20, Quote: 33 %).
Nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfte zwar die permanente und anlasslose Aufzeichnung des Verkehrsgeschehens mit den datenschutzrechtlichen Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes nicht vereinbar sein. Dies ändert aber nichts daran, dass Dashcam-Aufzeichnungen eines Unfallbeteiligten vom Unfallgeschehen als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess gleichwohl zulässig sind (BGH, Urt. v. 15.05.2018, Az. VI ZR 233/17)
Im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung ist dem Interesse des Geschädigten an einer Sachverhaltsaufklärung angesichts ansonsten bestehender Beweislosigkeit der Vorrang gegenüber dem Datenschutzrecht einzuräumen (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.06.2024, Az. 13 S 85/23; v. 13.10.2022 4 U 111/21; AG Lörrach, Urt. v. 27.02.2023. Az. 3 C 111/22).
Ein solcher Fall kann z.B. vorliegen, wenn ein Fahrzeugführer durch mehrere Bremsmanöver den Abstand des Lkw zum Pkw systematisch immer weiter verringert und durch sein provokatives Fahrverhalten nicht nur die Tatbestände der Nötigung und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verwirklicht, sondern auch die daraus resultierende Fahrzeugkollision zumindest billigend in Kauf genommen hat. Wird dann die Schuld des auffahrenden Lkw-Fahrers behauptet, können Dashcam-Aufnahmen wertvolle Beweismittel sein. (LG Bochum, Urt. v. 14.01.2021, Az. 8 O 428/19).
Nicht immer ist alles so, wie es auf den ersten Blick erscheint! Manche Dinge lassen sich das aber eben erst im Prozess aufklären!
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