Im innerstädtischen Verkehr geht es – vor allem in der Rush Hour – oft hektisch und unübersichtlich zu. Verkehrsunfälle mit anderen Verkehrsteilnehmern sind dabei keine Seltenheit. Vor allem wenn Fußgänger oder Radfahrer an unübersichtlichen Stellen unvermittelt „eben schnell“ die Straße queren wollen, wird es kritisch. Doch wer haftet, wenn es zum Unfall kommt? Das Oberlandesgericht (OLG) München stellte in seinem Urteil vom 25.11.2020 (Az. 10 U 2847/20) klar, dass es nicht immer der Autofahrer ist.
Im Mai 2019 kollidierte ein Fahrzeug mit einer querenden Radfahrerin. Diese fuhr vom Radweg über die Straße als es zum Unfall kam. In der Folge machte die Radfahrerin Schadensersatz über 200 Euro sowie Schmerzensgeld in Höhe von zunächst 20.000 Euro geltend. Als ihr dieses verweigert wurde, verklagte sie den Fahrzeughalter und seinen Haftpflichtversicherer unter anderem auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro.
Das zuständige Landgericht (LG) Landshut wies die Forderung der Radfahrerin mit Urteil vom 09.04.2020 (Az. 43 O 2430/19) zurück. Nachdem unter anderem ein Sachverständigengutachten eingeholt wurde, stand zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Wagen maximal 32 km/h fuhr, als es zum Unfall kam. Damit war aus Sicht des Sachverständigen der Unfall für den Fahrer des Wagens unvermeidbar gewesen. Für eine geringere Fahrgeschwindigkeit habe kein Anlass bestanden, auch wenn der Fahrradweg aufgrund von parkenden Fahrzeugen und einer hohen Hecke schlecht einsehbar gewesen sei.
Auch hielt das Gericht fest, dass der Wagen auf einer vorfahrtsberechtigten Straße fuhr und die Radfahrerin – entsprechend der vorhandenen und gut sichtbaren Beschilderung – wartepflichtig war. Der Autofahrer musste also gerade nicht damit rechnen, dass Fahrräder unvermittelt seinen Weg kreuzen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen war die Radfahrerin mit 15 bis 20 km/h über die Straße gefahren. Damit konnte sie – wie von ihr behauptet – nicht vor dem Überqueren angehalten haben.
Mit diesem Urteil war die Radfahrerin nicht einverstanden und ging in Berufung.
Das OLG sah keinen Fehler im Urteil des Landgerichts. Vielmehr bestätigte es dieses. Das ergänzende Vorbringen der Radfahrerin, „dass ein ortskundiger Kraftfahrer allein wegen der Einmündung eines Radwegs und der vorhandenen Sichtbeeinträchtigungen ‚jederzeit damit rechnen musste, dass … Fahrradfahrer … in die T. Straße einfahren, ohne im Einmündungsbereich anzuhalten‘“ teilte das Gericht nicht.
Vielmehr machte das OLG deutlich: „Im innerstädtischen Bereich gibt es an vielen Stellen Sichtbeeinträchtigungen durch Belaubung oder Bebauungen, die eine freie Sicht auf einmündende Straßen oder Einfahrten verhindern. Wenn dies entsprechend der Rechtsauffassung der Klägerin dazu führen würde, dass nicht der Radfahrer, der seinerseits nur eingeschränkte Sicht auf die bevorrechtigte Straße hat, beim Einfahren in die Straße Vorfahrt gewähren müsste, sondern ungebremst und unachtsam mit nicht geringer Geschwindigkeit die Straße queren dürfte, weil jeder Verkehrsteilnehmer an jeder dieser Straßen faktisch auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen müsste, würde das nicht nur den innerstädtischen Verkehrsfluss faktisch zum Erliegen bringen, sondern vor allem auch die Regeln der StVO, hier des § 10 StVO, in ihr Gegenteil verkehren.“
Die Entscheidung kann nicht überraschen. Denn z.B. hatten sowohl das LG Osnabrück (Beschl. 24.01.2017, Az. 10 S 501/16) oder das AG Nordhorn (Urt. v. 18.11.2016, Az. 3 C 25/16), klargestellt, dass Radfahrer sich im Rahmen des allgemeinen Rücksichtnahmegebots beim Überqueren der Fahrbahn so zu verhalten haben, dass sie andere Verkehrsteilnehmer nicht behindern oder gefährden.
Und wenn ein Radfahrer, ohne abzusteigen fahrenderweise einen Fußgängerüberweg überquert, wird er nicht vom Schutzbereich des § 26 Abs. 1 StVO erfasst (z.B. LG Frankenthal, Urt. v. 24.11.2010, Az. 2 S 193/10; OLG Hamm, 30. März 1992, 13 U 219/91. Ebenso wenig haben fahrende Radfahrer auf Fußgängerüberwegen Vorfahrtsrecht (LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 06.10.2016, Az. 2 S 8390/15).
Da immer wieder Radfahrer und E-Scooter-Nutzer zu beobachten sind, die aus Bequemlichkeit fahrlässig oder bewusst auf der falschen linken Seite, um Zeit zu sparen, sind Unfälle mit Geisterradlern (bzw. Geister-Scootern) keine Seltenheit. Dies gilt sowohl für Einmündungen und Kreuzungen, aber auch den Begegnungsverkehr mit anderen Radlern. Lastenradfahrer, Eltern mit Anhänger oder radfahrende Eltern mit Kleinkindern sind besonders genervt von Geister-Radlern. Hinzu kommt, dass Kinder, die den Gehweg nutzen müssen, verunsichert sind, wenn ihnen ein Geister-Radler entgegenkommt.
Um dem entgegenzuwirken, sind inzwischen vielerorts entsprechende Kennzeichnungen auf den Gehwegen zu finden. Kommt es auf einem derartig gekennzeichneten Radweg zu Unfällen, ist die Annahme zumindest eines Mitverschuldens des verkehrswidrig fahrenden Radfahrers nicht weit.
Bildnachweis: Polizeiinspektion Lüneburg/Lüchow-Dannenberg/Uelzen
Unfälle mit Radfahrern und Fußgängern sind im innerstädtischen Verkehr keine Seltenheit. Da sie bei Kollisionen gegenüber Fahrzeugen weniger geschützt sind, wird ihnen als „schwächere“ Verkehrsteilnehmer in der Regel ein besonderes Schutzbedürfnis zugesprochen. Doch wie dieses Urteil zeigt, befreit dies nicht von der Einhaltung der Verkehrsvorschriften. Häufig lässt sich der Sachverhalt jedoch erst durch ein Sachverständigengutachten aufklären.
Geschädigte sollten sich in derartig gelagerten Fällen bereits frühzeitig an uns wenden!
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Aktualisiert am 25.09.2024