Der Streit darüber, ob bei der Abwicklung wirtschaftlicher Totalschäden der regionale, der überregionale Markt oder gar etwaige Sondermärkte zu berücksichtigen seien, ist so alt wie die Schadenpraxis selbst. Die Rechtsprechung ist eindeutig und der Geschädigte ist Herr des Verfahrens
. Er darf sich auf die Aussagen des von ihm eingeschalteten Sachverständigen verlassen und muss sich grundsätzlich nicht auf vom Versicherer präferierte Sondermärkte aus Internetbörsen verweisen lassen. Die Praxis sieht allerdings anders aus.
Der Geschädigte wurde am 03.02.2014 unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt. Der vom Geschädigten beauftragte Sachverständige ermittelte den Restwert des beschädigten Fahrzeugs am 04.02.2014. Dazu holte er vier Angebote auf dem regionalen Markt ein. Das Höchstgebot lag bei 10.750 Euro. Dem gegnerischen Versicherer wurde dies anwaltlich am 07.02.2014 mitgeteilt. Die Eingangsbestätigung erfolgte am 11.02.2014 mit dem Hinweis, dass die Schadensunterlagen geprüft würden. Der Geschädigte verkaufte das Fahrzeug am 11.02.2014 für 11.000 Euro an einen nicht ortsansässigen Aufkäufer. Am 13.02.2014 legte der Versicherer ein verbindliches Angebot eines ebenfalls nicht ortsansässigen Händlers
in Höhe von 20.090 Euro vor. Mit diesem Wert rechnete er ab. Der Geschädigte wollte auf der Differenz von 9.090 nicht sitzen bleiben und verklagte den Versicherer.
Das LG Münster (Urt. v. 22.12.2014, Az. 15 O 30/14) folgte der Linie des OLG Köln (Urt. v. 16.07.2012, Az. 13 U 80/12) und sah einen Verstoß des Geschädigten gegen die Schadenminderungspflicht. Angesichts der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre habe der Kläger davon ausgehen können, dass der Beklagte als Versicherungsunternehmen dazu willens und in der Lage sei, ihm ein möglichst hohes Restwertangebot zu übermitteln, das den vom Sachverständigen
ermittelten Wert übersteigt.
Zudem sei dem beklagten Versicherer für eine ordentliche Schadensbearbeitung ein Zeitraum von 2 Wochen zuzubilligen gewesen. Dies sei nicht erfolgt. Der Geschädigte sah das anders und ging zum zuständigen OLG Hamm in die Berufung. Dieses konnte sich der Vorinstanz nicht anschließen (Urt. v. 11.11.2015, Az. 11 U 13/15).
In der Urteilsbegründung bezog sich das OLG auf das Urteil des BGH vom 01.06.2010 (Az. VI ZR 316/09). Danach leistet ein Geschädigter dem Gebot der Wirtschaftlichkeit im Allgemeinen Genüge und bewegt sich in den für die Schadensbehebung durch § 249 Abs. 2 S. 1 BGB gezogenen Grenzen, wenn er die Veräußerung seines beschädigten Kraftfahrzeuges zu demjenigen Preis vornimmt, den ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger in einem Gutachten, das eine korrekte Wertermittlung erkennen lässt, als Wert auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat.
Da dies dem entschädigungspflichtigen Versicherer missfiel, landete die Sache in der Revision beim BGH. Der wies diese auf Kosten des Versicherers zurück.
Unter Aufhebung des LG Saarbrücken (Urt. v. 08.04.2004, Az. 2 S 293/03) hatte der BGH bereits frühzeitig und unmissverständlich in den Gründen seines Urteils vom 12.07.2005 (Az. VI ZR 132/04) klargestellt, dass die Erkenntnismöglichkeiten des Geschädigten das entscheidende Kriterium seien; und diese bezögen sich eben nicht auf die Möglichkeit des durch spezialisierte Restwertaufkäufer eröffneter Sondermärkte. Zu eigener Marktforschung sei er nicht verpflichtet (vgl. bereits BGH vom 21.01.1992, Az. VI ZR 142/91; 06.04.1993, Az. VI ZR 181/992; 07.12.2004, Az. VI ZR 119/04). Daran hielt er fest.
Lediglich wenn das Restwertangebot des Versicherers mühelos und ohne Weiteres zugänglich sei
könne ein Geschädigter unter dem Gesichtspunkt der Schadenminderungspflicht dazu angehalten sein, von der favorisierten Verwertungsmöglichkeit
Abstand zu nehmen. Die Grenzen dafür seien allerdings eng zu ziehen und die Beweislast liege beim Schädiger bzw. dessen Versicherer. ( vgl. LG Düsseldorf, Beschl. v. 30.01.2016, Az. 22 S 470/15). Aus § 254 BGB heraus sei der Geschädigte aber weder dazu verpflichtet, günstigere Restwertangebote des Versicherers abzuwarten, noch diesen über eine bevorstehende Veräußerung zu informieren
.
An der Rechtsprechung zur Ermittlung des Restwertes unter Einschaltung von Restwertbörsen hat das Urteil des BGH nichts geändert. Der Geschädigte bleibt grundsätzlich Herr des Restitutionsverfahrens. Er ist nach wie vor dazu berechtigt, die Abwicklung unabhängig vom Schädiger in die eigenen Hände zu nehmen und in eigener Regie durchzuführen (z.B. Senatsurteile vom 18. März 2014 – VI ZR 10/13, VersR 2014, 849 Rn. 29; vom 20. Oktober 2009 – VI ZR 53/09, BGHZ 183, 21 Rn. 13; vom 6. April 1993 – VI ZR 181/92, VersR 181/92, VersR 1993, 769, 770).
Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man die technische Entwicklung in die Betrachtung einbezieht sowie eine allgemeine Zugänglichkeit von Online-Gebrauchtwagenbörsen unterstellt. Entscheidend für den BGH war, dass es einem Geschädigten – unabhängig davon, ob er im Einzelfall nach Einholung des Gutachtens dann auch entsprechend verfährt – möglich sein muss, das Fahrzeug einer ihm vertrauten Vertragswerkstatt oder einem angesehenen Gebrauchtwagenhändler bei dem Erwerb des Ersatzwagens in Zahlung zu geben
. Dieses wird er typischerweise nur ortsansässigen Vertragswerkstätten und Gebrauchtwagenhändlern, die er kennt oder über die er gegebenenfalls unschwer Erkundigungen einholen kann, entgegenbringen, nicht aber erst über das Internet gefundenen, jedenfalls ohne weitere Nachforschungen häufig nicht ausschließbar unseriösen Händlern und Aufkäufern.
Der regionale Markt ist nach wie vor die entscheidende Größe. Dies gilt sowohl für die Suche nach einem Ersatzfahrzeug (vgl. AG Bonn, Urt. v. 03.05.2016, Az. 104 C 101/15) als auch – wie der BGH bereits 1992 (Urt. v. 21.01.1992, Az. VI ZR 142/91) und danach immer wieder eindeutig festgestellt hat – für die Ermittlung des Restwerts. Auf überregionale oder gar Sondermärkte muss ein Geschädigter sich grundsätzlich nicht verweisen lassen.
Daran, dass die von den Versicherern gewünschten Verwertungsmodalitäten dem Geschädigten nicht aufgezwungen werden dürfen (BGH, Urt. v. 30.11.1999, Az. VI ZR 219/98) und dass die Restwertpraxis – dort wo dies der Fall ist – als rechtswidrig einzustufen ist, hat sich ebenfalls nichts geändert. Unverändert muss aber auch ein Sachverständigengutachten nach wie vor eine konkrete Wertermittlung erkennen lassen. Wo dies nicht der Fall ist, darf sich der Geschädigte auch nicht darauf verlassen (vgl. OLG Köln, Urt. v. 23.08.2018, Az. I-18 U 156/17; OLG Schleswig, Beschl. v. 15.09.2016, Az. 7 U 9/16).
Wer bei der Schadenabwicklung sicher gehen und mit dem Versicherer auf Augenhöhe kommunizieren will, sollte sich nicht auf das Schadenmanagement des Versicherers einlassen, sondern besser einen fachkundigen und mit der Materie vertrauten Anwalt einschalten.